»Ich hatte Brustkrebs, darum wurde mir eine Brust amputiert; wo die Brust war, ist die Körperseite jetzt flach und mit einer zehn Zentimeter langen Narbe versehen. Wenn ich in die Sauna gehe, habe ich bisher meine Narbe und das Fehlen der Brust mit einem Handtuch einigermaßen verdeckt – weil ich andere Menschen, besonders andere Frauen, beim Saunabesuch nicht dazu bringen will, über Brustkrebs nachzudenken. Für mich wäre es einfacher, das zu lassen, andererseits ist der Aufwand überschaubar. Soll ich die Stelle weiterhin bedecken?« Ann-Katrin D., Hamburg
Zu den Grundsätzen der Moral rechne ich die Rücksicht, und dazu gehört, immer dann, wenn ein Verhalten nur eine geringe Einschränkung bedeutet, für andere aber einen Gewinn darstellt, diese Einschränkung zugunsten der anderen hinzunehmen. Tatsächlich ist es für die meisten Menschen sehr belastend, sich mit einer potenziell tödlichen Krankheit auseinanderzusetzen, noch dazu bei einem Saunabesuch, der ja gerade der Entspannung dienen soll. Insofern könnte man dafür plädieren, dass Sie sich ein Handtuch über die Schulter hängen.
Doch halte ich das hier nicht für richtig. Unser Leben wird mehr und mehr bestimmt von der Illusion des perfekten Menschen – gefördert auch durch Werbung und Medien. Das mag auf den ersten Blick angenehm wirken, jedoch diskriminiert diese Illusion alle, die diesem Ideal nicht entsprechen, und setzt sie einem Leidensdruck aus. Die Frage des Menschseins hängt nicht an der Perfektion, und es ist falsch, sich dieser Diskriminierung anzuschließen oder auch nur zu beugen. In diesem Sinne kann es jedem Saunabesucher zugemutet werden, sich der kleinen Einschränkung seiner Illusion der Perfektion oder Unverletzlichkeit des Menschen auszusetzen. Und doppelt falsch ist es, eine Krankheit als Makel zu empfinden. Unter einer Krankheit zu leiden oder sie mit sichtbaren Spuren überwunden zu haben ist nichts, dessen man sich schämen oder das man verbergen müsste.
Etwas anderes gilt, wenn Sie sich mit Handtuch wohler fühlen. Krebs ist leider nach wie vor eine stigmatisierende Erkrankung. Weil seine Entstehung und Ursachen nicht geklärt sind, wird er, wie Susan Sontag schreibt, »als im moralischen, wenn nicht wörtlichen Sinne ansteckend empfunden«, der Kontakt mit einem Erkrankten gelte »unvermeidlich als Vergehen oder Tabuverletzung«. Ich hielte es zwar für klüger, wenn Sie sich dem stellen, für Ihr eigenes langfristiges Wohlbefinden, aber auch um die allgemeine Akzeptanz zu fördern. Wenn Sie sich diesem Umstand jedoch nicht aussetzen wollen, haben Sie jedes Recht, es nicht zu tun. Aber aus Rücksicht auf Sie selbst und nicht aus Rücksicht auf die anderen.
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Quellen:
Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1975
Susan Sontag, Krankheit als Metapher, in: Susan Sontag, Krankheit als Metapher. Aids und seine Metaphern, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2003
Illustration: Marc Herold