Zunächst einmal kann ich Sie beruhigen. Die Bezauberung, die Sie bei sich feststellen, disqualifiziert Sie nicht; fast scheint sie eine biologische Konstante zu sein: Wir – Männer wie Frauen – werden vom Schönen angezogen. Wie und warum das alles funktioniert, ergründet ein eigener Wissenschaftszweig, die Attraktivitätsforschung. Von biologischer Seite her betrachtet steht dabei meist ein Vorteil bei der Fortpflanzung im Mittelpunkt. So wirken, wie Untersuchungen nachgewiesen haben, Gesichter schön, die fit und jugendlich aussehen und symmetrisch sind. All dies seien Zeichen körperlicher Gesundheit, die Symmetrie beispielsweise ein Hinweis, dass sich der Körper regelmäßig und ohne Störungen entwickelt hat. Hinter diesem Mechanismus soll das Bestreben der Natur stecken, den eigenen Nachkommen, welche die eigenen Gene weiterverbreiten, über die Partnerwahl möglichst gute Chancen mitzugeben.Die Bevorzugung des Jungen-Schönen steckt also tief in uns und lässt sich weder leugnen noch ohne weiteres unterdrücken. Doch ist sie deshalb auch moralisch richtig? Ich finde nicht. Als mit Verstand ausgestattete Menschen haben wir die Möglichkeit, solche Zusammenhänge zu erkennen und gegenzusteuern – die eigentliche moralische Leistung. Nur wie? Dass uns das Attraktive freundlich stimmt, wird man kaum abstellen können. Das scheint mir auch nicht notwendig. Theoretisch würde es zwar Ihre Bedenken zerstreuen, wenn Sie nun jeden Adonis oder jede Aphrodite besonders unfreundlich behandeln, doch wäre in der Praxis niemandem gedient. Sie können sich hingegen bemühen, auch dann freundlich zu sein, wenn sich die äußerlichen Reize in überschaubaren Grenzen halten und Sie nicht automatisch dazu anspornen.Neben dem moralisch anzustrebenden Ausgleich hätte dieses Vorgehen noch den Effekt, dass es das allgemeine Freundlichkeitsniveau nicht senkt, sondern zu unser aller Vorteil anhebt.
Die Gewissensfrage
»Ist es moralisch verwerflich, wenn ich mich im Umgang mit Menschen von äußerlichen Reizen beeinflussen lasse? Die Bezauberung durch das Schöne und Jugendliche hat schließlich Folgen, die ich bei mir, aber auch bei vielen anderen Männern oft als bedenklich wahrnehme: Wenn mich zwei Menschen um etwas bitten, um Geduld vielleicht, um einen Gefallen, dann antworte ich dem oder der Jungen-Schönen oft entgegenkommender; zumindest innerlich, von meiner seelischen Bereitschaft her. Was halten Sie davon?«
KLAUS R., MÜNCHEN