Die Gewissensfrage

»Häufig fragen mich Leute nach meinem Befinden, mit denen ich eigentlich kaum was zu tun habe. Ich antworte dann fast immer mit einem knappen ›gut‹, auch wenn das gar nicht stimmt; ich will einfach nicht jedem meine Probleme und Sorgen preisgeben. Ist es moralisch gerechtfertigt, auf die alltägliche Frage ›Wie geht’s?‹ mit ›gut‹ zu antworten, auch wenn man das gar nicht so meint?« ALICE R., STUTTGART

Muss es stets verwerflich sein, von der Wahrheit abzuweichen? In seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral verteidigte Arthur Schopenhauer die Lüge zum Schutz der Privatsphäre: »Denn, wie ich das Recht habe, dem vorausgesetzten bösen Willen Anderer und der demnach präsumierten physischen Gewalt physischen Widerstand…entgegenzustellen…; so habe ich auch das Recht, dasjenige auf alle Weise geheim zu halten, dessen Kenntnis mich dem Angriff Anderer bloßstellen würde...« Noch prägnanter formulierte das die Düsseldorfer Philosophin Simone Dietz: »Niemand hat allein durch seine Frage schon ein Recht auf Auskunft. Wenn ich, um meine Privatsphäre zu schützen, den anderen belüge, verletze ich seine Rechte nicht, ich missachte ihn dadurch auch nicht.« Sie zieht die Grenze der Privatsphäre je nach der Beziehung zwischen den beiden Beteiligten, dem Grad ihrer Vertrautheit, was ja auch Ihrem Gefühl entspricht: Fremde gehen Ihre Sorgen nichts an, ihnen gegenüber dürfen Sie also problemlos die Unwahrheit sagen.Ich selbst sehe die Lösung allerdings noch viel einfacher: Meiner Meinung nach stellt der Satz »Wie geht’s?« für gewöhnlich gar keine echte Frage dar, sondern nur ein »Guten Tag« mit persönlichem Einschlag. Entsprechendes gilt für Ihre Reaktion: Man antwortet mit »Danke, gut« und hat nicht gelogen, sondern beide haben lediglich eine übliche Grußformel verwendet. Eskimos reiben sich die Nasen, hierzulande fragt man sich pro forma nach dem Befinden – ohne dass es wirklich interessiert – und antwortet positiv, ohne wirklich Wohlbefinden auszudrücken. Machen Sie doch einmal den Versuch und erzählen Sie Ihrem Chef, der Sie im Aufzug »Wie geht’s?« gefragt hat, von den Schulproblemen Ihrer Kinder, den Spannungen in Ihrer Ehe oder von den erfreulichen sportlichen Erfolgen Ihres Bowlingclubs. Ich wette, Sie können an seinem Gesicht ablesen, dass dies deutlich mehr Informationen sind, als er haben wollte.