Vielleicht erinnern Sie sich an die Geschichte von den Sirenen, nachzulesen in Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums: Nach dem Besuch bei der Zauberin Kirke fuhr Odysseus’ Schiff an der Insel dieser Zauberwesen vorbei, die mit ihrem Gesang jeden ins Verderben locken, der ihn vernimmt. Kirke hatte Odysseus gewarnt und ihm zu Gegenmaßnahmen geraten: »Wenn du an die Insel der Sirenen kommst und ihr Gesang euch droht, so verklebe die Ohren deiner Freunde mit Wachs, dass sie nichts hören; begehrst du aber selbst ihr Lied zu vernehmen, so befiehl, dass man dich, an Händen und Füßen gefesselt, an den Mast binde, und je sehnlicher du deine Freunde bittest, dich loszubinden, desto fester sollen sie ihre Seile schnüren.« Odysseus folgte dem Rat, und als er zu den Sirenen kam, »standen sie in der Gestalt reizender Mägdlein am Ufer und stimmten mit wundersüßer heller Kehle ihren Gesang an«. Derartigen Reizen kann natürlich niemand widerstehen; der gefesselte Odysseus flehte seine Begleiter an, ihn loszubinden. Die aber banden ihn noch fester. Erst als die Versuchung vorbei war, lösten die Freunde die Fesseln und Odysseus »dankte ihnen herzlich für ihre Beharrlichkeit«.Ich denke, darin liegt die Lösung Ihrer Frage: Jeder soll selbst über sein Leben entscheiden, solange er in der Lage ist, diese Entscheidung frei zu treffen. Das kann die eben von den Fesseln des Tabaks Entwöhnte im Nikotinentzug vermutlich gerade nicht; ihr dürften die Zigaretten als Versuchung sirenengleichen Ausmaßes erscheinen. Noch dazu müssen Sie sie zu ihrer Rettung vor der Sucht nicht einmal an einen Mast binden; es reicht, ihr einfach die Bitte zu versagen. Die Bevormundung dabei scheint gering: Falls sich Ihre Freundin gegängelt fühlt, kann sie sich an jeder Ecke selbst eine Packung kaufen. Wahrscheinlich wird sie es aber nicht tun und Ihnen stattdessen ebenso danken wie Odysseus seinen Getreuen.
Die Gewissensfrage
»Meine Freundin hat vor zwei Monaten aufgehört zu rauchen und ist fest entschlossen durchzuhalten. Ich selbst rauche noch, will sie aber natürlich beim Loskommen von dieser Sucht unterstützen. Vor kurzem hat sie mich nun überraschend um eine von meinen Zigaretten gebeten, sie wolle ›nur eine‹ rauchen. Natürlich ist die Gefahr groß, dass sich aus dieser einen ein Rückfall entwickelt. Darf ich ihr diese Zigarette verweigern? Muss ich es sogar oder wäre das eine unzulässige Bevormundung? Wenn sie noch rauchen würde, würde ich ihr natürlich eine Zigarette geben.« HEIKO R., HAMBURG