Die Gewissensfrage

»In Berlin verdienen sich Obdachlose ein Zubrot, indem sie Abreisende auf dem Fernbahnsteig fragen, ob diese eine Tageskarte für den Nahver-kehr haben, die sie nun nicht mehr benötigen. Diese Fahrkarten werden von den Obdachlosen dann für einen geringeren Preis weiterverkauft. Prima!? Ich spare Geld und helfe notleidenden Menschen. Ich kaufe eine reguläre und gültige Fahrkarte, frage mich aber, ob ich mir nicht eine ›echte‹ eigene Fahrkarte aus dem Automaten kaufen muss, um die Berliner Verkehrsbetriebe zu unterstützen.« MICHAEL P., BERLIN

Dagobert Duck wird der schöne Satz zugeschrieben: »Ich bin gern großzügig, wenn es mich nichts kostet.« Ihnen scheint das nicht ganz einfache Kunststück gelungen, den sprichwörtlich geizigen Onkel Dagobert, der im Original sogar Scrooge, also »Geizhals«, heißt, in puncto Sparsamkeit zu überflügeln. Bei Ihnen müsste der Satz lauten: »Ich bin gern großzügig, wenn ich selbst dadurch spare.« Das sollte stutzig machen. Auch der biblische Satz »Wer gibt, dem wird gegeben werden« (Lk 6,38) scheint mir trotz wörtlicher Nähe nicht einschlägig. Er dürfte mehr auf inneren Reichtum, das Jüngste Gericht oder eine insgesamt glückliche Lebenswendung denn auf einen augenblicklichen finanziellen Vorteil gemünzt sein.
Ich hole ein wenig aus, um das Problem von der rein rechtlichen Ebene wegzubekommen. Denn auf der ist alles klar. Sie kaufen keine »reguläre und gültige« Fahrkarte, sondern eine ungültige. Die Tageskarten der Berliner Verkehrsbetriebe sind »nicht übertragbar«, das heißt, sie sind auf die Person beschränkt, die sie als erste verwendet. In dem Moment, in dem der Fahrausweis den rechtmäßigen Erwerber verlässt, wird er inhaltlich von unsichtbarer Hand zerknüllt, sein Wert löst sich durch die Weitergabe auf und Sie erhalten nur einen äußerlich zwar unveränderten, dennoch entleerten Fahrschein-Anschein.

Das mag jetzt hart klingen, aber man kommt nicht daran vorbei: Wenn Sie die S-Bahn nutzen, müssen Sie ein Entgelt entrichten. Mit der Schnäppchenkarte tun Sie das aber nicht, sondern verhindern nur, beim Schwarzfahren erwischt zu werden. Damit spreche ich mich keinesfalls gegen Hilfe für Bedürftige aus. Bitte unterstützen Sie Notleidende! Aber nicht, indem Sie das Geld an anderer Stelle zu Unrecht vorenthalten.

Haben Sie auch eine Gewissensfrage? Dann schreiben Sie an Dr. Dr. Rainer Erlinger: gewissensfrage@sz-magazin.de.

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