Die Gewissensfrage

»In meinem Bekanntenkreis ist es Mode geworden, sich gegenseitig oder auch Wohnungen und Persönliches mit Digitalkameras oder Fotohandys ›spontan‹ zu fotografieren. Teils offen, teils heimlich. Manche dieser Bilder werden in öffentliche Internetforen, zum Beispiel in MySpace gestellt und damit allgemein zugänglich gemacht. Ich will das nicht. Muss ich mir blöd vorkommen, wenn ich darum bitte, nicht fotografiert zu werden, oder andere auffordere, zu fragen, bevor sie abdrücken?« LUISA C., BERLIN

Nein! Sie müssen sich keineswegs blöd vorkommen. Die Fotografie gehört zu den großen Künsten, welche die wunderbarsten Werke hervorgebracht hat. Nur damit hat das ständige Knipsen nichts zu tun. Letzteres stellt eine Unsitte dar, und Sie haben jedes Recht der Welt, dagegen vorzugehen. Das ließe sich nun recht leicht begründen mit der Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder des Rechts am eigenen Bild. Doch scheint mir das gar nicht notwendig: Der simple Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, reicht vollkommen aus. Das Erinnerungsfoto leidet ohnehin unter einem Geburtsfehler: Es soll den »Augenblick festhalten«. Ein Unterfangen, das von vornherein zum Scheitern verurteilt sein muss. Nicht nur physikalisch scheint es mehr als fraglich, einen Zeitraum und damit die Zeit selbst fest- und somit anhalten zu wollen. Auch inhaltlich stellt der Schnappschuss den untauglichen Versuch dar, Vergängliches unvergänglich zu machen. Mehr noch, da vieles im Leben seine Schönheit gerade aus der Vergänglichkeit bezieht, zielt das Erinnerungsfoto in Wirklichkeit auf die Vernichtung dieser Schönheit. Die Glut des Sonnenuntergangs fasziniert, weil sie nur kurz währt; strahlte das Firmament den ganzen Tag rot, man sähe nicht mal hin.Dazu kommt aber noch eine explizit moralische Komponente: Das vermeintlich harmlose Knipsen ist nämlich gar nicht so harmlos, schließlich werden Menschen, die ja keine Statuen sind, in Momenten eingefroren, die sie ebenso wenig bestimmen können wie das, was von ihnen festgehalten wird. Deshalb bezeichnet der große Meister Thomas Bernhard derartige Fotografie, weil sie »nur den grotesken und den komischen Augenblick« zeige, auch als »eine absolute Verletzung der Menschenwürde, eine ungeheuerliche Naturverfälschung, eine gemeine Unmenschlichkeit«. Und gegen so etwas darf man sich nun wirklich ruhigen Gewissens wehren.