Im Märchenbuch der Brüder Grimm findet sich die Erzählung vom alten Großvater, der zittrig den Löffel kaum halten konnte, Suppe auf das Tischtuch schüttete, »und es floß ihm auch etwas wieder aus dem Mund«. Aus Ekel verbannten ihn Sohn und Schwiegertochter vom Tisch, und als er seine Essschüssel zerbrach, kauften sie ihm eine billige aus Holz. Eines Tages trug der vierjährige Enkel ein paar Bretter zusammen, um »ein Tröglein« zu machen, »daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin«.
Da holten Mann und Frau »alsofort den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen, sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete«. Fast enthält diese Geschichte schon die Antwort, dabei ist sie doch nichts anderes als eine literarisch verpackte, in die Zukunft gerichtete goldene Regel. Der Enkel zwang die Eltern in die Position des Großvaters. Dennoch wird dadurch das Problem nur zum Teil erfasst. Einen wichtigen Aspekt zeigt Simone de Beauvoir in ihrem Essay Das Alter auf: »Die Traurigkeit alter Menschen wird nicht durch ein Ereignis oder durch besondere Umstände ausgelöst: Sie verschwimmt mit der Langeweile, die sie verzehrt, mit dem bitteren und demütigenden Gefühl ihrer Nutzlosigkeit, ihrer Einsamkeit inmitten einer Welt, die nur Gleichgültigkeit für sie übrig hat.«
Die besonderen Restaurantbesuche stellen demnach nicht einen Spleen Ihres Vaters dar, sondern haben als Erlebnis einen hohen Stellenwert in seinem Leben. Dennoch kann das nicht außer Acht lassen, worauf schon der römische Philosophenkaiser Marc Aurel hinwies: »Denn wie viele werden im Alter nicht kindisch! Und bei wem ein solcher Zustand eingetreten ist, dem fehlt es zwar nicht an der Fähigkeit zu atmen, sich zu nähren, sich etwas vor-zustellen und etwas zu begehren«, aber am »Vermögen, sich frei zu bestimmen…«
Dies scheint mir den Kern zu treffen: freie Selbstbestimmung. Gebrechlichkeiten oder Schwächen des Alters sind nicht peinlich, sondern der normale Verlauf des Lebens. Dessen braucht man sich nicht zu schämen und es ist zu akzeptieren. Eine Grenze wird erst dann erreicht, wenn Ihre Eltern sich selbst bloßstellen durch ein Verhalten, das sie im Sinne Marc Aurels nicht mehr bemerken, und mit dem sie – das ist entscheidend –, so sie es bemerkten, nicht würden auftreten wollen.
Ihre Aufgabe als Sohn ist, zu Ihren Eltern zu stehen und ihnen zu helfen, vielleicht auch das Problem mit dem Wirt zu erörtern; das beinhaltet aber auch, Ihre Eltern vor einer Bloßstellung zu bewahren, falls – und nur dann – sie das selbst nicht mehr vermögen.
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Illustration: Jens Bonnke