Eigenartig: Sie veranstalten offenbar zu Weihnachen ein gegenseitiges Piesacken, das über das ohnehin beachtliche, als weihnachtstypisch allgemein akzeptierte Maß an Tortur und Erpressung noch hinausgeht. Mehr aber überrascht, dass Sie sich dabei streng an die goldene Regel halten: Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst. Sie selbst wünschen sich einfühlsam ausgesuchte Geschenke und nichts von der Stange eines Wunschzettels, deshalb verhalten Sie sich auch Ihrer Schwester gegenüber so. Ihre Schwester hingegen möchte nicht, dass von ihr überreichte Präsente umgetauscht werden, deshalb behält sie, was immer man ihr geschenkt hat, mag es auch schon dutzendfach zu Hause liegen. Nicht obwohl, sondern weil Sie sich an die goldene Regel halten, sind Sie beide unglücklich.
Wie kann ein Moralprinzip, das als so grundlegend gilt, dass man es als »golden« bezeichnet, derart versagen? Noch dazu beim Schenken, dem Inbegriff der Zuwendung an den anderen. Man könnte das nun mit einem der Hauptfehler der goldenen Regel erklären, ihrer Subjektivität: Denn man projiziert nur seine eigenen Wünsche auf den anderen. Hier scheint mir das Problem aber gerade an der altruistischen Grundsituation zu liegen: Die goldene Regel dient dazu, durch Reflexion auf die eigene Situation egoistisches Verhalten zu begrenzen. Das Schenken bezieht sich jedoch von Anfang an auf das Gegenüber. Hier über die goldene Regel die eigenen Wünsche einzuschleusen, bedeutet einen Rückschritt, der die ursprüngliche Intention abschwächt und dadurch zerstörerisch wirkt. In Wirklichkeit beschenken Sie sich beide selbst, wenn Sie jeweils
kategorisch auf Ihren eigenen Maßstäben beharren. Mein Schluss daher: Beim Schenken orientiert man sich am Beschenkten oder man es lässt es bleiben. Weihnachten hin oder her.
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Illustration: Jens Bonnke