Die Gewissensfrage

"Neulich hatte ich eine längere Zugfahrt, ich setzte mich auf meinen reservierten Platz und begann zu lesen. Wenig später bestieg eine Reisegruppe mit geistig behinderten Kindern den Wagen. Es wurde sehr lebhaft und laut, ich konnte mich nicht mehr auf mein Buch konzentrieren und verließ deshalb den Wagen. Das hätte ich bei jeder anderen lärmenden Gruppe (Kegelverein, Fußballfans, Love-Parade-Teilnehmer) genauso getan, dennoch beschlich mich ein schlechtes Gewissen. Zu Recht?" Dirk S., Esslingen

In den Disability Studies, einem Wissenschaftszweig, der sich sozial- und kulturwissenschaftlich mit Behinderung beschäftigt, wird zwischen »Beeinträchtigung« und »Behinderung« unterschieden: Während eine »Beeinträchtigung« gesundheitlich oder funktional vorliegen kann, wird das Phäno-men der »Behinderung« als etwas gesehen, was erst durch die systematische Ausgrenzung von Menschen mit Beeinträchtigungen entsteht – indem man ihnen eine Randgruppenexistenz zuweist und Barrieren gegen ihre Teilnahme an der Gesellschaft errichtet.

So kann man beispielsweise feststellen, dass die besondere Zuwendung und Förderung, die man behinderten Menschen auch in der Behindertenpädagogik zukommen lässt, auf der einen Seite eine ethische Forderung erfüllt. Auf der anderen Seite führt das aber häufig zu einer »Verbesonderung« und Absonderung. Auch in Ihrem Fall handelt es sich ja um eine Gruppe, die gemeinsam, vermutlich unter professioneller Führung, reist und schon dadurch von den übrigen Reisenden erkennbar abgegrenzt wird. Eine Isolation gilt es zu vermeiden und damit wird auch der Konflikt klarer: Wenn Sie den Wagen verlassen, isolieren Sie die Behinderten rein faktisch. Auf der anderen Seite tun Sie das inhaltlich, wenn Sie sie anders behandeln als andere lärmende Menschen. Diese Erkenntnis zeigt den Weg zur Lösung: Das Verlassen des Wagens wäre schlecht, wenn es zu einer erkennbaren Verstärkung der Isolation führte, etwa weil die Mitreisenden scharenweise das Weite suchten oder Sie mit dem Ausdruck von Empörung oder Ablehnung Hut und Mantel packten.

Wenn das aber nicht der Fall ist, sollten Sie die Gruppe ansehen und behandeln wie jede andere Gruppe von Menschen. Und wenn Sie vor einem lärmenden Kegelverein das Weite suchen würden, weil Sie lesen oder arbeiten wollen, dürfen Sie das auch guten Gewissens bei lärmenden Behinderten tun.

Meistgelesen diese Woche:

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Literatur:
Markus Dederich / Wolfgang Jantzen (Hrsg.) Behinderung und Anerkennung, aus der Reihe: Behinderung, Bildung, Partizipation - Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik, Band 2, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2009
Darin besonders:
Markus Dederich: Behinderung als sozial- und kulturwissenschaftliche Kategorie, S. 15-39Markus Dederich & Martin W. Schnell, Ethische Grundlagen der Behindertenpädagogik: Konstitution und Systematik. S. 59-83Ingolf Prosetzky, Isolation und Partizipation, S. 88-95Anne Waldschmidt, Disability Studies, S. 125-133Detlef Horster, Anerkennung, S. 153-159

Zur Bedeutung der Partizipation in der Gesellschaft: Volker Gerhardt, Partizipation: Das Prinzip der Politik, C.H. Beck, München 2007

Immer wieder mussten sich auch Gerichte mit von Behinderten ausgehendem Lärm beschäftigen, so z.B.:

OLG Köln, Urteil vom 8.1.1998 - 7 U 83/96, NJW 1998, 763 mit Anmerkung Wassermann, NJW 1998, 730AG Kleve, Urteil vom 12.3.1999 - 3 C 460/98, NJW 2000, 84OLG Karlsruhe, Urteil vom 9.6.200 - 14 U 19/99AG Braunschweig, Beschluss vom 11.9.2006 - 34 II 10/04, NZM 2008, 172LG Münster, Urteil vom 26.2.2009 - 8 O 378/08, NJW 2009, 3730

Marc Herold (Illustration)