Die Gewissensfrage

Der Chef rückt ab und mit ihm ein Stückchen Tyrannei. Muss man bei seiner Verabschiedung dabei sein?

»Mein Chef geht bald in Ruhestand. Er mag einiges erreicht haben, war aber zu uns, seinen Untergebenen, oft herablassend und sogar verletzend. Kurzum: Ich mag ihn nicht und bin damit sicherlich nicht die Einzige. Nun sammelt unser Betriebsrat für ein Geschenk – 10 Euro pro Mitarbeiter. Muss ich mitzahlen? Muss ich auf seine Verabschiedung gehen? Rechtlich gesehen muss ich nicht, weil die Verabschiedung außerhalb der Arbeitszeit liegt – aber moralisch?« Beatrice S., Jena

Jemanden – nicht nur einen Chef – aus dem Arbeitsleben zu verabschieden, beinhaltet zweierlei: die Würdigung seiner Arbeitsleistung und den Abschied von den Menschen, mit denen er lange zusammengearbeitet hat.

Die Würdigung der Arbeitsleistung und der betrieblichen Verdienste ist primär Sache des Betriebs und damit der Geschäftsleitung. Ein Grund für Sie, sich daran zu beteiligen, obwohl Sie Ihren Chef nicht mögen, könnte sein, dass Sie seine Leistungen trotz aller Antipathie hoch schätzen: Wenn Sie etwa der Meinung sind, dass sich der Betrieb dank seiner besonders gut entwickelt hat oder Sie ihm gar die Sicherheit Ihres Arbeitsplatzes zu verdanken haben.

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Der persönliche Abschied hingegen ist eine Angelegenheit der direkten Mitarbeiter. Wenn Sie den Gefeierten nicht mögen, müssen Sie weder hingehen noch ihm etwas schenken. Das klingt hart, aber ich bin der Meinung, dass Menschen auch dann die Früchte ihres Verhaltens ernten sollten, wenn diese sauer schmecken. Er hatte lang genug Zeit, sich Freunde zu machen, aber es offenbar nicht getan. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn Sie all die Jahre einen freundlichen Umgang mit ihm gepflegt haben und erst jetzt, wenn Sie nichts mehr zu befürchten haben, Ihre wahre Einstellung offenbaren. Da fehlt mir dann ein bisschen das Rückgrat.

Am elegantesten fände ich aber fast eine Lösung, die ich die tridentinische nennen möchte. Das bezieht sich auf die alte tridentinische Messe im römischen Ritus, der in der katholischen Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil galt und derzeit eine umstrittene Renaissance erlebt. In der auf Lateinisch gehaltenen Messe sagt der Priester am Ende: »Ite, missa est – Geht, es ist Entlassung!« Die Gemeinde antwortet darauf mit: »Deo gratias« was gemeinhin mit »Dank sei Gott!« übersetzt wird. Sie können es aber auch – wie wohl so mancher nicht ganz so gläubige Kirchen-besucher – mit »Gott sei Dank!« übersetzen und auf Ihren Chef anwenden, der aus dem Berufsleben entlassen wird: Sehen Sie doch die Abschiedsfeier gleichzeitig als Fest für Sie, dass der Typ endlich weg ist. Dann können Sie auch aus ganzem Herzen auf sein Ausscheiden anstoßen.

Illustration: Marc Herold