»Ich bin 39 Jahre alt und seit meinem achten Lebensjahr Vegetarier. Schon damals wollte ich aus ethischen Gründen kein Fleisch und keinen Fisch essen, kein Tier sollte für mich getötet werden. Nun ist mir aber bewusst geworden, dass ich selber Tiere töte: Fliegen, die mich ärgern, Mücken und Spinnen, die in mein Schlafzimmer eindringen, oder Mäuse, die sich auf meinen Dachboden verirren. Warum gilt das ›Du darfst nicht töten‹ bei mir nicht automatisch auch für Insekten und Schädlinge?« Walter W., Wiesbaden
Es ist kein Automatismus, sondern Ihre Entscheidung, den Grundsatz »Du darfst nicht töten« nicht auch bei Insekten und Schädlingen gelten zu lassen. Man kann es nämlich auch anders handhaben. Strenge Anhänger der indischen Religion der Jainas, die sich besonders Ahimsa, der Gewaltlosigkeit gegenüber Lebewesen, verschrieben hat, lehnen beispielsweise sogar den Ackerbau ab, weil man beim Pflügen unweigerlich kleine Lebewesen im Boden tötet. Auch tragen sie einen Mundschutz, um nicht versehentlich kleine Fliegen einzuatmen.
Albert Schweitzer entwickelte eine »Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben in all seinen Erscheinungsformen«. Allerdings hatte auch schon Schweitzer das Problem gesehen, dass er als Arzt manchmal Bakterien töten muss, um das Leben eines Menschen zu retten. Tatsächlich wäre es schwer vorstellbar, den Tod eines Menschen in Kauf zu nehmen, um das Leben von Krankheitserregern zu retten.
Auf der anderen Seite kann man Tierschutz und Tierliebe aber auch auf leidensfähige Tiere beschränken und Insekten oder Spinnen davon ausnehmen. Vielleicht neigen Sie ja zu dieser Auffassung, was allerdings nicht erklären würde, warum Sie bereit sind, Mäuse zu töten, die ja immerhin zu den Säugetieren gehören. Oder Sie gründen Ihre Tierliebe im Sinne der Moralbegründung des Philosophen Arthur Schopenhauer auf Mitleid und verspüren dieses eben nicht, wenn ein Tier es wagt, bei Ihnen einzudringen. Falls Ihre ganze Moral nach diesem Prinzip funktioniert, sollten Sie jedoch unbedingt einen Warnhinweis für Besucher an Ihrer Türe anbringen.
Schließlich bliebe als Begründung eine Art »Notwehr«, etwa zur Verteidigung der Nachtruhe bei den Insekten oder gegen Schäden bei den Mäusen. Das könnte überzeugen, nur müssten Sie, wenn Sie es mit Ihrer Tierliebe ernst meinen, das Töten auf die Fälle beschränken, in denen es keine Alternative dazu gibt. Und das ist etwa bei Mäusen und Spinnen nicht der Fall: Man kann sie lebend fangen und aussetzen.
Deshalb scheint mir Ihre Unterscheidung bei der Tierliebe inkonsequent. Andererseits sehe ich aber auch keine Verpflichtung, in seinen Zuneigungen konsequent zu sein. Und die Schar der Hühnchen, Schweine, Kälber und anderer Tiere, die Sie in Ihrem Leben nicht gegessen haben, wird auch nicht darauf bestehen.
Literatur:
Konrad Ott, Umweltethik zur Einführung, Junius, Hamburg, 2010
Andreas Brenner, Ökologie-Ethik, in: Annemarie Pieper und Urs Thurnherr (Hrsg.) Angewandte Ethik, C.H. Beck Verlag München1998, S. 37-55
Urs Thurnherr, Tierethik, in: Annemarie Pieper und Urs Thurnherr (Hrsg.) Angewandte Ethik, C.H. Beck Verlag München1998, S. 56-77
Dieter Birnbacher, Mensch und Natur – Grundzüge der ökologischen Ethik, in: Kurt Bayertz (Hrsg.), Praktische Philosophie, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbeck bei Hamburg 1991, S. 278-321
Ursula Wolf, Das Tier in der Moral, Klostermann Verlag, Frankfurt am Main, 2. Auflage 2004
Angelika Krebs, Ökologische Ethik I. Grundlagen und Grundbegriffe, in: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 1996, S. 347-385
Anton Leist, Ökologische Ethik II. Gerechtigkeit, Ökonomie, Politik, in: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 1996, S. 386-456
Julian Nida-Rümelin, Tierethik I. Zu den philosophischen und ethischen Grundlagen des Tierschutzes, in: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 1996, S. 458-483
Julian Nida-Rümelin und Dietmar von der Pfordten, Tierethik II. Zu den ethischen Grundlagen des Deutschen Tierschutzgesetzes, in: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.), Angewandte Ethik, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 1996, S. 484-509