Die Gewissensfrage

Darf man Altkleidercontainer plündern, wenn man nicht genug Geld hat, um sich neue Klamotten zu kaufen?

»Freunde von mir sind Künstler und verdienen mit Nebenjobs sehr wenig Geld. Statt Kleidung wie bisher in Discountläden zu kaufen, sind sie dazu übergegangen, die Altkleidercontainer in Reiche-Leute-Gegenden zu plündern. Ich finde das moralisch nicht verwerflich, befürchte aber, dass sie, sollten sie erwischt werden, mit einer Strafanzeige rechnen müssten. Oder?« Jan S., Düsseldorf



Wussten Sie, dass auch Gewissensfragenbeantworter bei ihrer Arbeit von Gewissensskrupeln geplagt werden können? Falls nicht, wissen Sie es jetzt. Ihre Frage ist nämlich zunächst relativ einfach zu beantworten: Der Inhalt der Altkleidercontainer gehört den Eigentümern und »Betreibern« der Container. Wer seine abgelegte Kleidung dort einwirft, tut das in dem sehr klaren Bewusstsein, sie dieser Organisation zukommen zu lassen, zumal das oft auch wohltätige Einrichtungen sind. Was Ihre Freunde machen, ist also kein Bedienen aus dem Müll, sondern leider klassischer Diebstahl. Und was ich von Diebstahl halte, können Sie sich vermutlich denken.

Meistgelesen diese Woche:

Wäre da nicht noch etwas anderes: Immer wieder werden die Wege, die gesammelte Altkleider oft nehmen, kritisch diskutiert, speziell ihr Export in Entwicklungsländer und die Auswirkungen auf die dortigen Märkte. Zudem handelt es sich bei den Sammelbetrieben häufig nicht um karitative Organisationen, sondern um rein gewinnorientierte Firmen, und bei genauerer Betrachtung kann man auf vielen Containern dann auch lediglich das Versprechen lesen, »aus dem Erlös« sozialen Einrichtungen »etwas« zukommen zu lassen. Ein Versprechen, das sich – hart ausgedrückt – auch mit fünf Euro pro Jahr erfüllen lässt.

Dies vor Augen könnte man zum Schluss kommen, dass der Umwelt, der Allgemeinheit und dem Anliegen derer, die ihre Kleidung in die Container werfen, fast besser gedient ist, wenn sich Ihre Freunde daraus bedienen: Die Stücke werden direkt vor Ort weiter getragen, von Menschen, die auch bedürftig sind und sie wirklich zu schätzen wissen. Statt dass sie um die halbe Welt verschifft werden und unterwegs auf hoher See den in Gegenrichtung reisenden Billigtextilien begegnen, die irgendwo unter zweifelhaften ökologischen und sozialen Bedingungen produziert wurden, damit Ihre Freunde sie dann am Ende im Discounter kaufen können.

Dennoch gibt es eben auch – hoffentlich sogar in der Mehrzahl – viele nachhaltige und sinnvolle Wege der Altkleiderverwertung, und die macht man kaputt, wenn man sich die besten Stücke aus dem Container angelt. Zudem handelt es sich dabei trotz aller guten Ansätze um Diebstahl, den ich öffentlich nicht gutheißen kann und darf und auch nicht will, weil ich das Begehen von Straftaten aus Überzeugung und guten Gründen ablehne. Deshalb die Gewissensprobleme.

Illustration: Marc Herold