Die Gewissensfrage

Genügt das Versprechen, Freunden bei Prüfungen die Daumen zu drücken, oder muss man es auch wirklich tun?

»Ich studiere gerade und verspreche oft Freunden, ihnen für eine Prüfung die Daumen zu drücken. Ehrlich gesagt, vergesse ich das aber meist. Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, oder habe ich meine Aufgabe schon allein durch das Versprechen erfüllt?« Simona J., Hamburg

Die erste Überlegung wäre, ob Sie womöglich schon durch das Versprechen moralisch verpflichtet sind. Wie das geschehen kann, wie allein durch das Aussprechen von »Ich verspreche« quasi aus dem Nichts eine moralische Verpflichtung entstehen kann, ist ein in der Moralphilosophie seit Langem diskutiertes Problem. Es sei einer der mysteriösesten und unverständlichsten Vorgänge, die man sich vorstellen könne, meinte schon 1739 der schottische Philosoph David Hume.

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Erschwert werden die Überlegungen davon, dass das, was Sie versprechen, zwar einen realen Anteil hat, nämlich die Haltung Ihrer Finger. Doch wer ernsthaft darüber nachdenkt, wird kaum erwarten, dass Sie, je nach Prüfungsdauer, über mehrere Stunden oder einen ganzen Tag hinweg mit eingeschlagenem Daumen und somit mehr oder weniger handlungsunfähig herumlaufen. Deshalb geht es wohl vor allem um die davon erhoffte Wirkung auf den Prüfungsverlauf.

Die einschlägige Literatur meint, man habe es hier mit dem Rest eines sogenannten Bindungszaubers zu tun, mit dem man – wie man den Daumen festhält – einen in kritischen Situationen zusätzlich bedrohenden Dämon festhalten und bannen will; an anderer Stelle wird auf eine apotropäische, also Unheil abwendende oder Dämonen austreibende Wirkung verwiesen. Nun könnte man überlegen, ob man bei einer Prüfung nicht besser dem Prüfling wünschen sollte, sein vorhandenes Wissen zur Geltung zu bringen. Andererseits kann man den berühmten Blackout in der Prüfung – bei entsprechender Grundeinstellung zum Übersinnlichen – auch als Gedanken raubenden Dämon begreifen, und den während der Prüfung loszulassen, statt ihn mit dem Daumen zusammen festzuhalten, ist dem Prüfling gegenüber wirklich nicht nett.

So man jedoch nicht an Dämonen glaubt, scheint mir das Versprechen, die Daumen zu drücken, am ehesten der Ausdruck des Wohlwollens gegenüber dem Prüfling zu sein. Ein Wohlwollen aber ist eine Einstellung und keine aktive Maßnahme, deshalb ist es auch dann vorhanden, wenn man es sich nicht gerade explizit ins Bewusstsein ruft. So gesehen, hat man in diesem Fall das Versprechen – falls man es noch als solches bezeichnen kann – tatsächlich schon in dem Moment erfüllt, in dem man es gibt. Fürwahr ein nahezu mysteriöser Vorgang.

Zum Thema »Versprechen« empfiehlt Rainer Erlinger folgende Literatur:

Norbert Anwander, Versprechen und Verpflichten, mentis Verlag Paderborn 2008

David Hume, A Treatise of Human Nature: Being an Attempt to introduce the experimental Method of Reasoning into Moral Subjects 1739–1740, Book III Of Morals, Part II Of Justice and Injustice, Sect. V Of the Obligation of Promises.
Hier online abrufbar.
Dort wörtlich: „ I shall farther observe, that since every new promise imposes a new obligation of morality on the person who promises, and since this new obligation arises from his will; ‘tis one of the most mysterious and incomprehensible operations that can possibly be imagin’d, and may even be compar’d to transubstantiation, or holy orders, [I mean so far, as holy orders are suppos’d to produce the indelible character. In other respects they are only a legal qualification.] where a certain form of words, along with a certain intention, changes entirely the nature of an external object, and even of a human nature.“

Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (10 Bände). Hrsg. v. Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller, Berlin / New York, Walter de Gruyter, 1987.

Unveränderter photomechanischer Nachdruck der Originalausgabe (Handwörterbuch zur deutschen Volkskunde, herausgegeben vom Verband deutscher Vereine zur deutschen Volkskunde, Abteilung I, Aberglaube) erschienen 1927 bis 1942 bei Walter de Gruyter & Co, vormals G.J. Göschen'sche Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trüber - Veit & Comp., Berlin und Leipzig

Band 2: C.M.B. – Frauentragen, Spalte 174 Stichwort: Daumen

Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Band 1: Aal bis Glied, Glieder, Verlag Herder Freiburg, 3. Auflage 1973, Stichwort: Daumen

Illustration: Marc Herold