» Seit Jahren halten wir Hühner und einen Hahn als Haustiere. Nun hat ein Huhn neun Küken gebrütet, darunter auch vier Hähne. Und die machen dem alten Gockel zunehmend Konkurrenz. Lassen wir der Natur freien Lauf, wird den alten Hahn eine quälende Niederlage und ein schneller Tod ereilen. Die Alternative wäre, die vier Hähne - die
sich als Brüder gut verstehen - zum Schlachten zu geben. Was ist moralisch vertretbarer?« Heiner B., Kiel
Sie bringen mein Weltbild ins Wanken. Bislang hatte ich die Position des Hahns im Korb als eine doch eher erfreuliche aufgefasst. Nun lese ich, dass man sie leider mit einem frühen und quälenden Tod bezahlt.
Die Überzeugung, es könnte angenehm sein, Hahn im Korb zu spielen, wird sicher auch von dem bekannten Schlager Ich wollt’, ich wär ein Huhn aus dem UFA-Film Glückskinder genährt. Denn dort wird am Ende erklärt, dass es der Hahn noch besser habe als das bis auf das tägliche Eierlegen ohnehin schon beneidenswert pflichtenarme Huhn: »Ich wollt, ich wär ein Hahn, / dann würde nichts getan. / Ich legte überhaupt kein Ei und wär die ganze Woche frei«.
Vom Ärger mit der Brut ist dort ebenso wenig die Rede wie von der Bedrohung, die von ihr ausgeht - speziell für den vermeintlich so privilegierten Hahn. Aber Ihre Situation ist natürlich auch geeignet, ödipale Ängste im Freud’schen Sinne nicht nur bei den Söhnen zu nähren, sondern auch umgekehrte beim Vater: Jeder muss fürchten, vom oder zugunsten des anderen getötet zu werden. Und Sie als Hühnerhalter treten dem Federvieh gegenüber als das allmächtige Schicksal auf, dem weder Ödipus noch sein Vater Laios entkommen konnten, sosehr sie sich auch bemühten: Laios wollte nach einem entsprechenden Orakelspruch vorsichtshalber Ödipus aus dem Weg räumen, dennoch brachte der ihn später zwar unwissend, aber wie vorherbestimmt um.
Nun wollen Sie wissen, wem die Stunde schlagen soll. Darauf kann man allerdings nur antworten, dass auch Sie sich wie in einer griechischen Tragödie in einem klassischen Dilemma befinden, für das es keine echte Lösung gibt. Ein Haustier - in diesem Fall jeder der fünf Hähne - ist nicht in der Natur, sondern in der Obhut seines Halters, der damit Verantwortung für das Tier übernommen hat; und der Natur die Entscheidung zu überlassen ist auch eine Entscheidung. Sie können in beide Richtungen argumentieren: zugunsten Ihrer langjährigen Beziehung zum alten Hahn, auch im Hinblick auf seine Schwäche, aber genauso gut utilitaristisch abzählend zugunsten der jungen Hähne, auch im Hinblick auf den Lauf der Natur. Ich würde dazu tendieren, der Natur ihren Lauf zu lassen, aber das ist meine persönliche Einstellung - und ich bin kein Hühnerhalter.
Quellen:
Glückskinder, Deutscher Spielfilm, Uraufführung am 19. August 1936 in den USA, am 18. September 1936 in Deutschland. Regie: Paul Martin. Mit: Lilian Harvey, Willy Fritsch, Paul Kemp. Die Dialoge stammen von Curt Goetz. Aus dem Film stammt auch das Lied „Ich wollt ich wär ein Huhn“, Musik von Peter Keuder, Text von Hans Fritz Beckmann, das später vor allem in der Fassung der Comedian Harmonists bekannt wurde.
Illustration: Serge Bloch