»Ich bin absolut kein Nachtmensch, im Gegensatz zu meiner Frau. Wenn wir Freunde zu Besuch haben, kann es schon mal spät werden. Um den netten Abend nicht abrupt zu beenden, ziehe ich mich – wenn ich allzu schläfrig werde – diskret zurück. Meine Frau meint, das sei ihr und den Gästen gegenüber unhöflich. Ich will den Gästen aber nicht das Gefühl geben, sie müssten aus Rücksicht auf mich nach Hause gehen. Wer hat Recht?« Rolf B., Münster
Ich werde nicht müde, an dieser Stelle immer wieder darauf hinzuweisen, dass Etikette und Moral nicht dasselbe sind. Die Benimmbücher, in denen ich nachgeschlagen habe, schreiben, dass man sich bei Einladungen nicht stumm entfernen, sondern verabschieden soll. Das bezieht sich dort allerdings auf die Gäste, nicht auf die Gastgeber. Dass die ohne Gruß verschwinden, kommt den Verfassern von Benimmbüchern vermutlich nicht einmal in den Sinn. Schließlich haben sie ja wichtige Funktionen bei der Einladung. Und tatsächlich wäre es für die meisten Gäste eigenartig, irgendwann feststellen zu müssen, dass alle Gastgeber schon zu Bett gegangen sind. Aber auch dabei käme es meines Erachtens auf die Situation an, und wenn Gäste und Gastgeber sich gut kennen, muss das nicht unbedingt ein Problem sein.
Vielleicht ahnen Sie es schon: Ich finde es manchmal gar nicht so schlecht, sich »französisch zu empfehlen« oder, wie man in Berlin dazu sagt, einen »polnischen (Abgang)« zu machen. Während Begrüßungen und das gegenpolseitige sich Vorstellen etwas Schönes sind, was den Abend voranbringt, haben Verabschiedungen den gegenteiligen Effekt – ganz einfach, weil sie ein Abschied sind. Sie unterbrechen den Verlauf und brechen den Abend im schlimmsten Fall ab, weil in dem Moment wohl jeder der verbliebenen Gäste kurz überlegt, ob er vielleicht auch gleich gehen will oder soll. Und diese Überlegung wird naturgemäß stärker, wenn sich nicht andere Gäste verabschieden, sondern einer der Gastgeber. Nahezu automatisch wird es in dem Moment zu Diskussionen kommen, ob es wirklich in Ordnung ist, noch zu bleiben. Und oft werden sich die Gäste anschließend ein wenig unsicher sein oder gar unwohl fühlen.
Damit wären wir beim entscheidenden Punkt: Sinn einer Einladung ist, dass möglichst alle, Sie und die Gäste, einen guten Abend haben. Danach und nicht nach Benimmregeln sollte sich Ihr Verhalten richten. Sonst beißt sich die Katze in den Schwanz: Wenn es die Regel gibt, dass ein Gastgeber sich nicht still zurückziehen soll, empfinden die Gäste es als unhöflich, falls er es tut, und dann sollte man es wirklich nicht tun. Wenn man die Regel aber außen vor lässt, scheint mir Ihr stiller Abgang das Beste für den Abend wie für die Gäste zu sein und damit richtig.
Quellen:
Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Verlag Herder, Freiburg 1973, Band I, S. 287
Zum guten Benehmen gibt es eine ganze Reihe von Büchern. Eines will ich nennen, weil es wirklich gut, intelligent und witzig ist, außerdem so gut geschrieben, dass man gerne darin liest:
C. Bernd Sucher, Handy, Handkuss, Höflichkeit, Knaur Taschenbuch Verlag München 2007
Illustration: Serge Bloch