»Beim ersten Date zum Spaziergang mit einem sehbehinderten Mann wollte der sich sofort bei mir einhaken - was ich zurückwies. Als die Dämmerung hereinbrach, bat er nochmals um meinen Arm, da er sonst seinen Blindenstock benutzen müsse. Ich wies ihn erneut ab. War das falsch oder ist meine Freiheit, mit wem ich Körperkontakt haben möchte, wichtiger?« Sabine F., Essen
Schwieriges erstes Date und Spaziergang. Wem schießt bei dieser Konstellation nicht Goethes Faust und die Szene seiner ersten Begegnung mit Gretchen in den Sinn? So auch mir. Dementsprechend stelle ich mir vor, wie der Dialog bei Ihnen in etwa abgelaufen sein könnte: First Date (mit der Hand tastend): »Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, Arm und Geleit mir zu erfragen?« / Dame (entrüstet): »Wie dreist: Ob ich schön bin, könnt Ihr gar nicht sehn. So sollt Ihr ungeleitet nach Hause gehn.« (First Date geht unsicher stolpernd ab.)
Dabei hatte der Herr noch Glück, wenn es nicht entlang einer Uferpromenade oder einer stark befahrenen Straße ging. Womöglich hätte sich dann die Frage nach einem etwaigen zweiten Treffen aufgrund Ihrer Ablehnung des Geleits schnell und abschließend erledigt.
Der Kern Ihres Problems scheint mir in den zwei möglichen Funktionen des Einhängens zu liegen: einerseits Leithilfe für einen Gehandicapten, andererseits körperlicher Kontakt als Ausdruck von Nähe und möglicher Startpunkt hin zu noch mehr Nähe. Für gewöhnlich frage ich Experten, hier halte ich mich selbst für ausreichend kundig: Es besteht ein großer Unterschied zwischen zärtlichem Arm-in-Arm-Gehen und dem sichernden Einhaken eines Seh- oder Gehbehinderten. Sowohl in der Art der Berührung als auch im gefühlten Kontext. Und zumindest solange Ihr Date das nicht überschreitet und ausnutzt, besteht eine allgemeine Pflicht, die Hilfestellung zu leisten. Noch dazu bei jemandem, der Ihnen immerhin akzeptabel genug erscheint, um ihn zu daten.
Natürlich gibt es Grenzen: Wenn jemand meine lebensrettende Mund-zu-Mund-Beatmung plötzlich mit einem intensiven Kuss beantwortete, würde ich die Atemspende abbrechen. Es sei denn, es handelte sich um - nun ja, das tut hier nichts zur Sache.
Literatur:
Johann Wolfgang von Goethe, Faust I,
Straße (I)
Faust. Margarete vorübergehend.
Faust:
Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,
Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?
Margarete:
Bin weder Fräulein, weder schön,
Kann ungeleitet nach Hause gehn.
Sie macht sich los und ab.
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Illustration: Serge Bloch