Die Gewissensfrage

Darf man Nutzen aus Kriegsbildern ziehen, indem man mit ihnen seine eigenen Alltagsprobleme relativiert?

»Ich habe mich heute sehr über eine Kollegin aufgeregt. Später habe ich dann auf Youtube grausame Filme über Genozide und den Bürgerkrieg in Syrien angesehen. Mein Ärgernis schien mir plötzlich sehr banal, die Wut war verflogen. Ist es verwerflich, wenn ich meine Alltagsprobleme so relativiere, also indirekt Nutzen aus dem Leid der Opfer ziehe?« Guido R., Frankfurt

Was tun Sie? Indem Sie sich die Filme ansehen, nehmen Sie Anteil am Leid anderer, und gleichzeitig erkennen Sie, dank des Vergleichs damit, was für ein gutes Leben wir hierzulande führen. Man könnte argumentieren, dies hilft Ihnen, zu einer gewissen Demut oder Dankbarkeit zu gelangen - unabhängig von der Frage, wem gegenüber; sagen wir einmal vorsichtig: dem Leben. Anteil, Demut, Dankbarkeit, all dies sind positive Ziele und Ergebnisse.

Meistgelesen diese Woche:

Dennoch teile ich Ihre Bedenken, dank - wie so manches Mal - Immanuel Kant. Warum? Es mag eigenartig erscheinen, aber um zu zeigen, worum es mir geht, hilft es, Kant hier statt im Original in der englischen Übersetzung zu lesen. In der Selbstzweckformel lautet der kategorische Imperativ: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«

Nur was genau bedeutet das für Ihre Frage? In der englischen Übersetzung heißen Mittel »means«, manchmal ergänzt mit »to an end«, und Zweck »end«. Bei diesen Worten tritt der Unterschied zwischen Mittel und Zweck deutlicher hervor: Mit Zweck ist der Zielpunkt der jeweiligen Handlung gemeint, ein Ziel, das nicht selbst wieder als Mittel zur Erreichung eines anderen Zweckes dient.

Führt man sich das so vor Augen, wird die Zwiespältigkeit Ihres Handelns klar: Sie verwenden die Filme und das Leid der Menschen zwar zunächst für den Zweck der Anteilnahme und damit für die Menschen selbst. Aber eben nicht als »end«. Sondern dieser Zweck, die Anteilnahme, dient wiederum als Mittel, »means«, für einen anderen, dahinter liegenden Zweck: sich durch den Kontrast besser zu fühlen. Das erst ist der echte finale Zweck, »the end«. Nicht jedoch die Menschen selbst, deren Leid Sie dafür benutzen. Und das ist falsch.

Literatur:

Die Selbstzweckformel des Kategorischen Imperativs findet sich in: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie Ausgabe S. 429, sowie in englischer Übersetzung von Thomas Kingsmill Abbott.

Alfred Schöpf, Ziel, in: Otfried Höffe, Lexikon der Ethik, Verlag C.H. Beck, 5. Auflage, München 1997, S. 347f.

Zum Thema der Betrachtung von grausamen Bildern lesenswert:

Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2005

Susan Sontag, Über Fotografie, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1980

Susan Sontag, Regarding the Torture Of Others, The New York Times Magazin, 23 May 2004

Susan Sontag, Endloser Krieg, endloser Strom von Fotos (deutsch von Eva Christine Koppold), Süddeutsche Zeitung vom 24.5.2004

Klaus Theleweit, Der Knall: 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell, Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main,2002

Katastrophenfaszination. Michael Girke im Gespräch mit Klaus Theweleit, Magazin für Theologie und Ästhetik 39/2006

Mark A. Halawa, Betroffene Sichtbarkeiten, Abu Ghraib und die Gewalt des Blicks, mauerschau, hrsg. von Ralf Wohlgemuth, Unversitätsverlag Rhein-Ruhr an der Universität Duisburg Essen, Heft 2/2008, S. 7-24

Illustration: Serge Bloch