Die Gewissensfrage

Darf man seinem zweiten Kind den Namen geben, der eigentlich fürs erste vorgesehen war?

»Für unser erstes Kind hatten wir uns vor der Geburt einen männlichen und einen weiblichen Namen überlegt. Nun erwarten wir ein zweites Kind und überlegen, ob es moralisch in Ordnung ist, ihm den Namen zu geben, der schon für unser erstes Kind vorgesehen war, wenn es ein Junge geworden wäre. Oder trägt unsere Tochter nicht eigentlich schon beide Namen?« Julia P., Hamburg

Wie stark sind Personen mit ihren Namen verknüpft? In seinem Buch Totem und Tabu berichtet Sigmund Freud, dass vielfach der Name als Bestandteil der Person seines Trägers angesehen wird – nicht nur bei archaischen Völkern und Kindern. Das Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens kennt eine Vielzahl von Verbindungen zwischen Namen und Schicksal des Trägers, zum Beispiel habe mancherorts »der Arme seinem Kinde den N[ame]n eines Reichen« gegeben. Ein Überrest dieser Gedanken dürfte sich im weit verbreiteten Benennen von Kindern nach Eltern, Großeltern, Paten oder Heiligen wiederfinden. All dies vermag ein Unbehagen beim Namensrecycling erklären.

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Doch auch wenn man nicht abergläubisch ist, sehe ich einen bedenkenswerten Punkt: die Austauschbarkeit. Nicht der Namen, sondern der Kinder. Im Grunde dient ein Name der Bezeichnung oder Charakterisierung des Individuums, ist also sekundär. Wenn jedoch der Name vorher da ist, scheint das Kind plötzlich umgekehrt die Aufgabe zu haben, einen Namen mit Leben aufzufüllen. Und dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn ein Kind einen Namen erhält, der schon für ein vorheriges Kind vorgesehen war und damals nur nicht verwendet werden konnte. Der Nachgeborene muss plötzlich neben der Kleidung auch noch den abgelegten Namen auftragen.

Eine Lösung findet man im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Dort kann man lesen, dass heute bei der Namenswahl nicht die Herkunft des Namens oder die Berufung auf Familientradition oder Namenspatrone »ausschlaggebend zu sein pflegt, sondern vielmehr der Wunsch nach Wohlklang und die mehr oder minder bewusste Anpassung an den Zeitgeschmack«. Überlegungen dieser Art aber sind nicht individuell auf das einzelne Kind bezogen, und man kann sie, statt sie beim zweiten Kind neu anzustellen, auch übernehmen.

Literatur:

Wolfgang Aly, Name, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (10 Bände). Hrsg. v. Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller, Berlin / New York, Walter de Gruyter, 1987. Band 6 Spalte 950-961. Unveränderter photomechanischer Nachdruck der Originalausgabe (Handwörterbuch zur deutschen Volkskunde, herausgegeben vom Verband deutscher Vereine zur deutschen Volkskunde, Abteilung I, Aberglaube) erschienen 1927 bis 1942 bei Walter de Gruyter & Co, vormals G.J. Göschen'sche Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trüber - Veit & Comp., Berlin und Leipzig    

Helmut Gipper, Name, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 6, Verlag Schwabe & Co., Basel 1984, Spalte. 364-389.    

Sigmund Freud, Totem und Tabu, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1991, dort insbesondere II. Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen, Kapitel 3 c) Das Tabu der Toten, S. 105ff., III. Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken, Kapitel 2, S. 132 und IV. Die infantile Wiederkehr des Totemismus, Kapitel 2, a) Die Herkunft des Totemismus, α) Die nominalistischen Theorien, S. 162ff.  

„Das Befremdende dieses Namenstabu ermäßigt sich, wenn wir daran gemahnt werden, dass für die Wilden der Name ein wesentliches Stück und ein wichtiger Besitz der Persönlichkeit ist, dass sie dem Worte volle Dingbedeutung zuschreiben. Dasselbe tun, wie ich an anderen Orten ausgeführt habe, unsere Kinder, die sich darum niemals mit der Annahme einer bedeutungslosen Wortähnlichkeit begnügen, sondern konsequent schließen, wenn zwei Dinge mit gleichklingenden Namen genannt werden, so müsste damit eine tiefgehende Übereinstimmung zwischen beiden bezeichnet sein. Auch der zivilisierte Erwachsene mag an manchen Besonderheiten seines Benehmens noch erraten, dass er von dem Voll- und Wichtignehmen der Eigennamen nicht ganz so weit entfernt ist, wie er glaubt und dass sein Name in einer ganz besonderen Art mit seiner Person verwachsen ist. Es stimmt dann hiezu, wenn die psychoanalytische Praxis vielfachen Anlass findet, auf die Bedeutung der Namen in der unbewussten Denktätigkeit hinzuweisen.“ Sigmund Freud, aaO., S. 106f.  

„Zu den wesentlichen Bestandteilen einer Persönlichkeit gehört nach der Anschauung der Primitiven ihr Name; wenn man also den Namen einer Person oder eines Geistes weiß, hat man eine gewisse Macht über den Träger des Namens erworben.“ Sigmund Freud, aaO., S. 132 

„Namen sind für die Primitiven – wie für die heutigen Wilden und selbst für unsere Kinder – nicht etwa etwas Gleichgültiges und Konventionelles, wie sie uns erscheinen, sondern etwas Bedeutungsvolles und Wesentliches. Der Name eines Menschen ist ein Hauptbestandteil seiner Person, vielleicht ein Stück seiner Seele.“ Sigmund Freud, aaO., S. 164

Illustration: Serge Bloch