»Meine Mitbewohnerin hat lange Haare, die leider jede Woche den Abfluss der Dusche verstopfen. Vor Kurzem hat sie mich gefragt, ob sie ihre Haare rasant kurz schneiden soll. Ich habe sofort Ja gesagt. Sie hat mich nicht gefragt, was ich von der Frisur halte, da hätte meine Antwort Nein lauten müssen - es steht ihr nämlich nicht. Muss ich ihr das sagen?« Michael Z., Köln
In seinem Buch Instructio Sacerdotum beschäftigte sich Ende des 16. Jahrhunderts der spanische Jesuit und Kardinal Francisco de Toledo mit einem alten Problem. Nachdem der Kirchenlehrer Augustinus 394 und 420 in seinen Büchern De mendacio (Über die Lüge) und Contra mendacium (Gegen die Lüge) ein absolutes Lügenverbot verkündet hatte, mühte sich die Moraltheologie über Jahrhunderte, für Notsituationen, in denen eine Lüge geboten sein könnte, Lösungen zu finden. Eine dieser Lösungen war die zweideutige Rede, locutio ambigua. Wenn man etwas Falsches, so diese Lehre, derart formuliert, dass es auch richtig verstanden werden kann, sei das keine Lüge, denn es könne ja auch richtig verstanden werden. Würde man etwa danach gefragt, ob jemand anwesend sei, dürfe man, obwohl derjenige sehr wohl da ist, sagen: »Er ist nicht hier«, wenn man es nur etwas schärfer ausspricht. Denn das könne man als die korrekte Aussage verstehen, er nehme keine Nahrung zu sich: »Er isst nicht hier.«
Toledo nun erklärte, bei der Beantwortung einer privaten Frage dürfe man auch ad intentionem petentis remotam antworten, also nicht auf den Wortlaut der Frage, sondern darauf, worauf es dem Fragesteller im Grunde ankommt. Wer etwa gefragt werde, ob er aus einer pestverseuchten Stadt komme, dürfe das wahrheitswidrig verneinen, wenn er sicher sei, dass er nicht infiziert ist, weil der Fragesteller ja nur wissen wolle, ob er die Seuche mitbringe.
Bei Ihnen nun liegt es genau umgekehrt. Sie antworten wahrheitsgemäß auf den Wortlaut der Frage, obwohl Ihnen klar ist, dass es Ihrer Mitbewohnerin auf etwas anderes ankommt. Ihre Antwort ist nicht gelogen und dennoch falsch. Und Ihre Begründung ist, wenngleich amüsant, ähnlich fragwürdig wie die spiegelbildliche des jesuitischen Kardinals.
Literatur:
Francisco de Toledo, Summa casuum sive instructio sacerdotum, Lyons, 1599 zitiert nach:
Johannes Lindworsky, Das Problem der Lüge bei katholischen Ethikern und Moralisten, in: Otto Lipmann, Paul Plaut (Hrsg.), Die Lüge in psychologischer, philosophischer, juristischer, pädagogischer, historischer, soziologischer, sprach- und literaturwissenschaftlicher und entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung, Verlag Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1927, S. 53-72
Die Ausführungen zu Francisco de Toledo finden sich auf S. 63f.
Das Beispiel „Er ist/isst hier nicht“, ein Fall der Aequivocatio, auf S. 62
Francisco de Toledo wurde am 4 October 1532 in Cordoba, Spanien geboren und starb am 14 September 1596 in Rom. Das Buch Summa casuum sive instructio sacerdotum erschien offenbar erst nach seinem Tod, wurde aber in viele Sprachen übersetzt und in vielen Auflagen gedruckt.
Rochus Leonhardt, Martin Rösel (Hrsg.), Dürfen wir lügen? Beiträge zu einem aktuellen Thema, Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2002
Darin speziell: Alfons Fürst, Patristische Diskussionen über die Lüge, S. 68-90
Rochus Leonhardt. Omnis homo mendax (Ps 116,11) Das Problem der Lüge aus der Sicht der evangelischen Ethik, S. 228-248, S. 230ff.
Lesenswert zur Lüge:
Simone Dietz, Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003
Volker Sommer, Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch, dtv, München 1994
Eberhard Schockenhoff, Zur Lüge verdammt? Politik, Justiz, Kunst, Medien, Medizin, Wissenschaft und die Ethik der Wahrheit. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau, 2. Auflage 2005
Mathias Mayer (Hrsg.), Kulturen der Lüge, Böhlau Verlag, Köln 2003
André Comte-Sponville, Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 3. Auflage 2010, darin das Kapitel 16: Die Aufrichtigkeit, S. 229ff
Sowie: Rainer Erlinger, Moral. Wie man richtig gut lebt, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, darin das Kapitel: Von neuen Frisuren, Präsidenten und Praktikantinnen. Über die Lüge, S. 32-52
Mit stärkerem wissenschaftlichen Bezug die Vorlesung „Wer einmal lügt... Über Lüge und Wahrheit“ in: Rainer Erlinger, Nachdenken über Moral. Gewissensfragen auf den Grund gegangen, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012, S. 13-46
Illustration: Serge Bloch