»An der Supermarktkasse hatte ich einen Großeinkauf, die Dame hinter mir dagegen nur zwei Sachen. Ich ließ sie vor, was sie mit herzlichem Dank annahm. Da sah ich, dass der Herr hinter ihr auch nur zwei Sachen hatte. Ich habe bei ihm dann nichts mehr gesagt, hatte aber ein schlechtes Gewissen deswegen. Hätte ich ihn nicht genauso vorlassen müssen?«Trude S., Freising
Ihr Problem hat, obwohl mit Kassenschlangen vermutlich wenig vertraut, bereits Immanuel Kant gesehen. In seiner Metaphysik der Sitten schrieb er, dass die Wohltätigkeit zwar eine Pflicht sei, deren Umfang sich aber nicht genau festlegen lasse: »Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) Anderer ihre zu befördern, würde eine an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte. Also ist diese Pflicht nur eine weite; sie hat einen Spielraum, mehr oder weniger hierin zu tun, ohne dass sich die Grenzen davon bestimmt angeben lassen.« Um eine Grenze zu finden, muss man deshalb nach Kriterien jenseits der Pflicht suchen. Zum Beispiel folgendermaßen: Achten Sie doch das nächste Mal, wenn Sie jemanden mit nur wenig Einkauf vorlassen, auf Ihr Befinden während des gesamten Wartens. Ich wage eine Prognose: Die Wartezeit erscheint Ihnen angenehmer und kürzer. Und zwar insgesamt, obwohl das Vorlassen für Sie zusätzliche Wartezeit bedeutet. Warum? Erstens, weil Sie nicht gefühlt nutzlos warten, sondern jemandem damit helfen, was – Stichwort: Geben ist seliger denn Nehmen – zufrieden macht. Vor allem aber werden Sie buchstäblich wieder Herrin über Ihre Zeit. Sie haben die zusätzliche Zeit freiwillig übernommen und damit Ihre Autonomie, deren Verlust mit das Unangenehmste am Warten ist, zurückgewonnen. Und das strahlt auf die gesamte Wartezeit aus. Ich glaube deshalb, dass Ihnen das Warten, obwohl länger, weniger ausmacht, wenn Sie noch weitere Personen vorlassen – und würde es Ihnen daher empfehlen. Natürlich nur bis zu einer gewissen Grenze, die Sie, diesen Überlegungen zufolge, aber nach Ihrem Gefühl bestimmen können. Denn es kann, in den Worten Kants, nicht Pflicht sein, Ihre eigene Glückseligkeit vollkommen zugunsten anderer zu opfern.
Literatur:
Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe S. 393
Online abrufbar unter: http://www.korpora.org/Kant/aa06/393.html
„Geben ist seliger denn nehmen“ oder, je nach Übersetzung „Geben ist seliger als nehmen“ stammt aus der Bibel, Apostelgeschichte 20,35
In diesem speziellen Fall ist eine biblische Aussage aber auch wissenschaftlich nachgewiesen:
Stephen G. Post, Altruism, Happiness, and Health: It’s Good to Be Good, International Journal of Behavioral Medicine, 2005, Vol. 12, No. 2, 66–77
Elizabeth W. Dunn, Lara B. Aknin, and Michael I. Norton, Prosocial Spending and Happiness: Using Money to Benefit Others Pays Off, Current Directions in Psychological Science, 2014, Vol. 23(1) 41–47
Sehenswert ist der bekannte TED-Talk von Michael Norton:
http://www.ted.com/talks/michael_norton_how_to_buy_happiness?language=de
Nachgewiesen ist auch speziell, dass, Zeit für andere aufzuwenden, das Gefühl hervorruft, mehr Zeit zu haben:
Cassie Mogilner, Zoë Chance, and Michael I. Norton, Giving Time Gives You Time, Psychological Science, 2012, 23(10) 1233–1238
Cassie Mogilner, You’ll Feel Less Rushed If You Give Time Away, Harvard Business Review, September 2012
Online abrufbar unter: https://hbr.org/2012/09/youll-feel-less-rushed-if-you-give-time-away
Illustration: Serge Bloch