Gewissensfrage

»Eine langjährige Freundin, mit der ich oft vertrauliche Sachen bespreche, sagte mir, dass sie all dies, darunter auch sehr Intimes, Frauenspezifisches, ganz selbstverständlich mit ihrem Ehemann beredet – obwohl ich sie ausdrücklich gebeten habe, es für sich zu behalten. Ihrer Meinung nach ist es selbstverständlich, dass man mit seinem Partner ausnahmslos alles teilt und die Vertraulichkeit in diesem Falle nicht gilt. Ich sehe das anders. Bin ich nun ›schief gewickelt‹, oder fühle ich mich zu Recht verraten?« IRIS D., Kaiserslautern

Ihre Freundin hat recht: Es ist wichtig, in einer Liebesbeziehung möglichst offen zueinander zu sein, denn gegenseitige Offenheit stellt einen wichtigen Grundpfeiler jeder Liebesbeziehung dar. Aber auch Sie haben recht: Es ist wichtig, speziell in einer Freundschaft Anvertrautes zu bewahren, denn Vertrauen stellt einen wichtigen Grundpfeiler jeder Freundschaft dar. Damit stehen sich zwei Werte gegenüber und es gilt abzuwägen. Aber wie? Sollte man die Kräfte der Beziehungen vergleichen? Nach dem Motto: Welches Band bindet fester?

Man merkt sehr schnell, auf dieser Ebene kommt man nicht weiter. Glücklicherweise haben Sie selbst ein weiteres Stichwort gegeben, was immer es auch genau bedeuten mag: »Frauenspezifisches«. Mangels eigener Erfahrung muss ich mir darunter die Themen vorstellen, die Carrie Bradshaw und ihre Freundinnen Samantha, Charlotte und Miranda in der TV-Serie Sex and the City laufend besprechen, also in erster Linie Schuhe, Sex und Männer. Doch auf den Inhalt kommt es hier gar nicht an, sondern nur auf die Deklaration. Indem Sie etwas so bezeichnen, zeigen Sie das Entscheidende: dass nämlich Sie als Urheberin die alleinige Bestimmungshoheit darüber innehaben, für wessen Ohren die jeweiligen Informationen bestimmt sind. Mit dem Etikett »Nur für dich« versehen, dürfen die Geheimnisse erst gar nicht bis zu einer allfälligen Abwägung zwischen Partnerschaft und Freundschaft gelangen. Sie sind sozusagen von Anfang an nicht übertragbar. Und der vermeintlich Vertrauenswürdigen steht nicht das Recht zu, sich Ausnahmen davon zu genehmigen. Deshalb: Ja, wenn Ihre Freundin von Ihnen derart Gesperrtes dennoch weitergab, hat sie Sie verraten. Vermutlich ohne bösen Willen, aber sie hat es getan.

Illustration: Jens Bonnke