»Kürzlich verlor ich einen für mich sehr kostbaren Ring. Eine Bekannte meinte, ich solle zum Heiligen Antonius beten, der sei für verschwundene Dinge zuständig. Ich bin Atheistin. Aber ich betete und versprach ihm fünfzig Euro. Tatsächlich fand sich der Ring wieder – und ich spendete die versprochenen fünfzig Euro. Ist es unbillig, sich als Atheistin der katholischen Heiligen zu bedienen?« Ursula S., München
Von meiner Seite haben Sie kaum Einwände zu befürchten. Für Glaubensdinge bin ich nicht zuständig, da müssen Sie in diesem Fall die katholische Kirche befragen. Wobei ich noch selten von Beschwerden einer Religionsgemeinschaft darüber gehört habe, dass man zu ihren Gottheiten und Heiligen betet oder gar spendet. Und wenn Sie Atheistin sind, also nicht glauben, handeln Sie von Ihrer Warte aus auch nicht falsch, wenn Sie sich etwas bedienen, also zum Mittel machen, von dem Sie überzeugt sind, dass es nicht existiert. Zumindest solange es innerlich geschieht.
Ich würde zwar leichte Zweifel hinsichtlich der Frage anmelden wollen, ob Sie wirklich Atheistin sind; andererseits halte ich leichte logische Widersprüche für durchaus menschlich und für keine echte Frage der Moral.
Weit weniger Verständnis würden Sie jedoch bei Immanuel Kant finden. Nicht nur, dass Sie gegen die Naturgesetzformel seines Kategorischen Imperativs verstoßen, weil, wenn Sie als Atheistin beten, Ihr Wille im Widerspruch zu sich selbst steht. Er würde Sie wohl auch der »inneren Lüge« überführen. Und die sieht er nicht als harmlose Variante der Lüge an, sondern im Gegenteil: Wer innerlich lügt, macht sich laut Kant zwar nicht in anderer, aber, »was noch mehr ist, in seinen eigenen Augen zum Gegenstande der Verachtung und verletzt die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person«. Und als Beispiel für eine solche besonders verwerfliche innere Lüge führt er einen Fall an, der Ihrem doch recht nahe kommt: »Wenn er z. B. den Glauben an einen künftigen Weltrichter lügt, indem er wirklich keinen solchen in sich findet, aber, indem er sich überredet, es könne doch nicht schaden, wohl aber nutzen, einen solchen in Gedanken […] zu bekennen, um auf allen Fall seine Gunst zu erheucheln.«
Literatur:
Die Naturgesetzformel des Kategorischen Imperativs lautet:
»Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.«
(Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AA IV, 421)
Hier online aufrufbar
»Handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstande haben können.«
(Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AA IV, 437)
Hier online aufrufbar
Gerade bei der zweiten Fundstelle erläutert Kant, dass damit die Widerspruchsfreiheit der Maxime gemeint ist:
»Der Wille ist schlechterdings gut, der nicht böse sein, mithin dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann. Dieses Princip ist also auch sein oberstes Gesetz: handle jederzeit nach derjenigen Maxime, deren Allgemeinheit als Gesetzes du zugleich wollen kannst; dieses ist die einzige Bedingung, unter der ein Wille niemals mit sich selbst im Widerstreite sein kann, und ein solcher Imperativ ist kategorisch. Weil die Gültigkeit des Willens als eines allgemeinen Gesetzes für mögliche Handlungen mit der allgemeinen Verknüpfung des Daseins der Dinge nach allgemeinen Gesetzen, die das formale der Natur überhaupt ist, Analogie hat, so kann der kategorische Imperativ auch so ausgedrückt werden: handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstande haben können. So ist also die Formel eines schlechterdings guten Willens beschaffen.«
(Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA S. 437)
Hier online aufrufbar
Für das Verständnis des Kategorischen Imperativs und seiner verschiedenen Formeln ist sehr empfehlenswert:
Kant für Anfänger. Der kategorische Imperativ. Eine Lese-Einführung von Ralf Ludwig, dtv München 1999
Zur inneren Lüge:
Immanuel Kant
Die Metaphysik der Sitten
AA S. 429 f.
»1. Von der Lüge
§ 9
Die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als moralisches Wesen betrachtet (die Menschheit in seiner Person), ist das Widerspiel der Wahrhaftigkeit: die Lüge (aliud lingua promptum, aliud pectore inclusum gerere). Daß eine jede vorsätzliche Unwahrheit in Äußerung seiner Gedanken diesen harten Namen (den sie in der Rechtslehre nur dann führt, wenn sie anderer Recht verletzt) in der Ethik, die aus der Unschädlichkeit kein Befugnis hernimmt, nicht ablehnen könne, ist für sich selbst klar. Denn Ehrlosigkeit (ein Gegenstand der moralischen Verachtung zu sein), welche sie begleitet, die begleitet auch den Lügner, wie sein Schatten. Die Lüge kann eine äußere (mendacium externum), oder auch eine innere sein. – Durch jene macht er sich in anderer, durch diese aber, was noch mehr ist, in seinen eigenen Augen zum Gegenstande der Verachtung, und verletzt die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person; wobei der Schade, der anderen Menschen daraus entspringen kann, nicht das Eigentümliche des Lasters betrifft (denn da bestände es bloß in der Verletzung der Pflicht gegen andere), und also hier nicht in Anschlag kommt, ja auch nicht der Schade, den er sich selbst zuzieht; denn alsdenn würde es bloß, als Klugheitsfehler, der pragmatischen, nicht der moralischen Maxime widerstreiten, und gar nicht als Pflichtverletzung angesehen werden können.
– Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde. Ein Mensch, der selbst nicht glaubt, was er einem anderen (wenn es auch eine bloß idealische Person wäre) sagt, hat einen noch geringeren Wert, als wenn er bloß Sache wäre; denn von dieser ihrer Eigenschaft, etwas zu nutzen, kann ein anderer doch irgend einen Gebrauch machen, weil sie etwas Wirkliches und Gegebenes ist; aber die Mitteilung seiner Gedanken an jemanden durch Worte, die doch das Gegenteil von dem (absichtlich) enthalten, was der Sprechende dabei denkt, ist ein der natürlichen Zweckmäßigkeit seines Vermögens der Mitteilung seiner Gedanken gerade entgegengesetzter Zweck, mithin Verzichttuung auf seine Persönlichkeit und eine bloß täuschende Erscheinung vom Menschen, nicht der Mensch selbst. – Die Wahrhaftigkeit in Erklärungen wird auch Ehrlichkeit, und, wenn diese zugleich Versprechen sind, Redlichkeit, überhaupt aber Aufrichtigkeit genannt.
Die Lüge (in der ethischen Bedeutung des Worts), als vorsätzliche Unwahrheit überhaupt, bedarf es auch nicht, anderen schädlich zu sein, um für verwerflich erklärt zu werden; denn da wäre sie Verletzung der Rechte anderer. Es kann auch bloß Leichtsinn, oder gar Gutmütigkeit, die Ursache davon sein, ja selbst ein wirklich guter Zweck dadurch beabsichtigt werden, so ist doch die Art, ihm nachzugehen, durch die bloße Form ein Verbrechen des Menschen an seiner eigenen Person, und eine Nichtswürdigkeit, die den Menschen in seinen eigenen Augen verächtlich machen muß.
Die Wirklichkeit mancher inneren Lüge, welche die Menschen sich zu Schulden kommen lassen, zu beweisen, ist leicht, aber ihre Möglichkeit zu erklären scheint doch schwerer zu sein; weil eine zweite Person dazu erforderlich ist, die man zu hintergehen die Absicht hat, sich selbst aber vorsätzlich zu betrügen einen Widerspruch in sich zu enthalten scheint.
Der Mensch, als moralisches Wesen (homo noumenon), kann sich selbst, als physisches Wesen (homo phaenomenon), nicht als bloßes Mittel (Sprachmaschine) brauchen, das an den inneren Zweck (der Gedankenmitteilung) nicht gebunden wäre, sondern ist an die Bedingung der Übereinstimmung mit der Erklärung (declaratio) des ersteren gebunden, und gegen sich selbst zur Wahrhaftigkeit verpflichtet. – Wenn er z.B. den Glauben an einen künftigen Weltrichter lügt, indem er wirklich keinen solchen in sich findet, aber, indem er sich überredet, es könne doch nicht schaden, wohl aber nutzen, einen solchen in Gedanken einem Herzenskündiger zu bekennen, um auf allen Fall seine Gunst zu erheucheln. Oder, wenn er zwar desfalls nicht im Zweifel ist, aber sich doch mit innerer Verehrung seines Gesetzes schmeichelt, da er doch keine andere Triebfeder, als die der Furcht vor Strafe, bei sich fühlt.
Unredlichkeit ist bloß Ermangelung an Gewissenhaftigkeit, d.i. an Lauterkeit des Bekenntnisses vor seinem inneren Richter, der als eine andere Person gedacht wird, wenn diese in ihrer höchsten Strenge betrachtet wird, wo ein Wunsch (aus Selbstliebe) für die Tat genommen wird, weil er einen an sich guten Zweck vor sich hat, und die innere Lüge, ob sie zwar der Pflicht des Menschen gegen sich selbst zuwider ist, erhält hier den Namen einer Schwachheit, so wie der Wunsch eines Liebhabers, lauter gute. Eigenschaften an seiner Geliebten zu finden, ihm ihre augenscheinliche Fehler unsichtbar macht. – Indessen verdient diese Unlauterkeit in Erklärungen, die man gegen sich selbst verübt, doch die ernstlichste Rüge: weil, von einer solchen faulen Stelle (der Falschheit, welche in der menschlichen Natur gewurzelt zu sein scheint) aus, das Übel der Unwahrhaftigkeit sich auch in Beziehung auf andere Menschen verbreitet, nachdem einmal der oberste Grundsatz der Wahrhaftigkeit verletzt worden. –«
Kant spricht in diesem Zitat davon, dass derjenige, der keinen Glauben an einen zukünftigen Weltenrichter hat, diesen Glauben dennoch in Gedanken »einem Herzenskündiger zu bekennen«.
Hierzu:
»Der Hêrzenskündiger, des -s, plur. ut nom. sing. der der Herzen kundig ist, die Herzen, d.i. verborgensten Gedanken und Empfindungen, kennet, welches nur eigentlich von Gott gesagt werden kann. Gott der Herzenskündiger, Apostelg. 15, 8.«
Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1796, S. 1150.