Das Problem: Nur jeder zweite Mord wird aufgeklärt.
Die Lösung? Thomas Hargrove hat einen Computer-Algorithmus entworfen, mit dem er Serienmörder entlarvt.
Würde Sherlock Holmes heute leben, würde er vermutlich weniger mit Pfeife und Gehstock hantieren, sondern er würde eine App entwerfen. Eine App, um Verbrecher zu fangen?
Das ist gar nicht so abwegig. Thomas K. Hargrove, 61, knobelte schon als investigativer Journalist gerne über kniffligen Fällen. Inzwischen widmet sich der ehemalige Politikjournalist seit sieben Jahren ganz seiner Leidenschaft: Serienmörder fangen, und zwar am Computer.
Hargroves Rechner ist ein Hort des Grauens: 752 000 Mordfälle hat er darin in akribischer Kleinarbeit archiviert, rund 27 000 mehr als das FBI. Er hat damit das größte Archiv an Mordfällen in den USA angelegt. Mit seiner gemeinnützigen Organisation, dem Murder Accountability Project (MAP), entwarf er ein Computerprogramm, das er mit allen bekannten Mord-Daten der letzten drei Jahrzehnte fütterte und so auf Cluster durchforstet, also auf Häufungen von Mordfällen.
Dazu muss man wissen: In Amerika wird fast die Hälfte aller Morde nie aufgeklärt. Die Aufklärungsrate sinkt sogar. Jedes Jahr bringen 6000 Menschen in Amerika jemanden um, ohne dafür je zur Rechenschaft gezogen zu werden. In Deutschland sieht es wesentlich besser aus, zumindest auf den ersten Blick: Die deutsche Polizei rühmt sich, 93 Prozent aller Morde aufzuklären. Aber auch hierzulande glauben manche, jeder zweite Mord würde nicht aufgeklärt – allerdings eher deshalb, weil viele Todesfälle nicht als Morde erkannt werden.
»Die wenigsten wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, einen Mord aufzuklären, heute viel geringer ist als vor Jahrzehnten«, sagt Hargrove. »Ich habe mich gefragt, ob wir Computern beibringen können, Mörder ausfindig zu machen, und die Antwort ist: Ja.«
Als Korrespondent für den Scripps Howard News Service entwickelte Hargrove einen Algorithmus, der Serienmorde entdeckt. Über Hargroves Schreibtisch in Alexandria, Virginia, hängt ein Bild vom sogenannten Seattle River Killer, der 48 Frauen ermordete. Den nahm er zum Paradefall, an dem er mit seinen Mathekünsten experimentiere. »Auf sein Foto habe ich immer gestarrt, während ich den Algorithmus entwickelte.«
Laut Hargrove gibt es 220 000 ungelöste Mordfälle in Amerika. »Das sind mehr als alle Toten aus allen amerikanischen Militäroperationen seit dem Zweiten Weltkrieg.« Von diesen Morden sind etwa 2000 das Werk von Serientätern, aber bis heute gibt es keine nationale Datenbank. »Die einzige Möglichkeit herauszufinden, dass zwei Morde zusammenhängen ist, dass sich zwei Ermittler zufällig in der Kantine treffen und ihre Fälle vergleichen.«
Hargroves Algorithmus identifiziert Gemeinsamkeiten, etwa in der Tötungsart, dem Ort, der Art der Opfer. Zum Beispiel wurde er in Gary, Indiana, auf 15 ungeklärte Todesfälle aufmerksam: alle Frauen, alle wurden erwürgt, alle in verlassenen Häusern gefunden. Er ging also zur Polizei in Gary. Dort wurde er ignoriert. Der Sheriff sagte ihm: »Es gibt keine ungeklärten Todesfälle in Gary.« Hargrove gab nicht auf, schickte Briefe per Einschreiben, hinterließ Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Das Ergebnis: »Totenstille. Sie wollten nicht hören, dass in ihrem Bezirk möglicherweise ein Serienmörder unterwegs ist.« Vier Jahre vergingen und sieben weitere Frauen wurden dort erwürgt, bevor die Polizei Hargroves Hinweise ernst nahm. »Das war die frustrierendste Erfahrung meines Lebens«, sagt Hargrove. Inzwischen sitzt ein Mann hinter Gittern, der bei seiner Verhaftung sechs weitere Morde gestand, die bis dahin gar nicht als Morde erkannt worden waren.
Was Hargroves Computer weiß: Serienmörder sind zehn Mal häufiger männlich als weiblich, sie sind im Durchschnitt nicht besonders klug (ein Durchschnitts-IQ von 94,5 laut Hargroves Datenbank), morden meist in einem bestimmten Radius, und es gibt verschiedene Typen – manche suchen sich ihre Opfer nach dem Zufallsprinzip, manche aus Hass, manche aus Eigennutz. Rechtshänder fliehen eher nach links, aber werfen belastendes Material eher nach rechts. 75 Prozent der Opfer sind Frauen zwischen 20 und 50 Jahren.
Für Hargrove ist das Identifizieren von Mördern in gewisser Weise die Fortsetzung seiner journalistischen Karriere als Polizeireporter. Auch da hat er oft Skandale aufgedeckt, weil er die Daten und Zahlen akribisch durchleuchtete, und auch da hat er Leben gerettet. Zum Beispiel wunderte er sich, warum in Florida so viel mehr Babys am plötzlichen Kindstod starben als anderswo; als Resultat seiner Arbeit schufen die Centers for Disease Control die erste nationale Datenbank für plötzlichen Kindstod und starteten eine Aufklärungskampagne. Privat liebt er Krimis, und als er eine Reportage über Prostituierte recherchierte und die Polizei ihm auf seine Anfrage nach der Verbrechensstatistik versehentlich die detaillierten Mordstatistiken des FBI auf der CD mitlieferte, war sein Interesse geweckt.
Inzwischen hat Hargrove eine ganze Armada an Hobby-Detektiven infiziert, die seinen Algorithmus und seine Webseite ebenfalls nutzen, um Serienmorde als solche zu erkennen. Zuletzt hat er die Polizei in Cleveland mit der Erkenntnis alarmiert, 60 weibliche Opfer seien womöglich das Werk eines oder mehrerer Serienmörder. Diesmal hat er mehr Glück als in Indiana: Die Polizei nimmt seine Erkenntnisse ernst und hat eine Sondereinheit ins Leben gerufen.
Hargrove hat seinen Algorithmus derweil ausgebaut: Er sucht nun auch nach Brandstiftern. Denn sein Computer hat ihm beigebracht, dass es eine Verbindung zwischen Brandstiftern und Serienmördern gibt: Viele Mörder fangen als Brandstifter an. Und gehen dann Hargrove in die Computer-Falle.
Foto: Getty Images for Hamptons International Film Festival