Das Problem: Jedes Jahr werden allein in Deutschland fabrikneue Waren im Wert von mehr als sieben Milliarden Euro zerstört.
Die Lösung? Eine Kölner Unternehmerin verteilt sie an gemeinnützige Organisationen.
Juliane Kronens abrupter Karrierewechsel begann mit 200.000 Flaschen Shampoo. Eine Firma hatte sie falsch etikettiert, Umetikettieren war zu teuer, bis zum nächsten Abend mussten sie vom Hof. Juliane Kronen, damals noch Partnerin bei der Boston Consulting Group, bekam einen Anruf von einem Kollegen: »Du arbeitest doch mit gemeinnützigen Organisationen, können die Shampoo brauchen?« Kronen begann, eifrig zu telefonieren und fand: Könnten sie schon, aber jeder höchstens fünfzig Flaschen. Niemand hatte den Platz, auf die Schnelle eineinhalb Sattelzüge voll Shampoo zu lagern. Das war für Kronen, 55, der Anstoß, zu überlegen: Wie oft werden eigentlich einwandfreie Produkte weggeworfen? Wie kann ein Modell aussehen, das ein solches Problem angeht? Acht Jahre später hat sie mit ihrer Plattform Innatura Produkte mit einem Warenwert von 16,5 Millionen Euro vor der Halde gerettet.
SZ-Magazin: Wie groß ist das Problem in Deutschland, dass einwandfreie Sachen von Firmen weggeworfen werden?
Juliane Kronen: An dem Abend, nachdem das Shampoo in den Müll gebracht wurde, habe ich mich mit Kollegen zusammen gesetzt und wir haben das bei Boston Consulting (BCG) ausgerechnet: Fabrikneue Konsumgüter im Wert von 7 Milliarden Euro werden im Deutschland pro Jahr entsorgt. 7 Milliarden! Davon ist mindestens ein Drittel einwandfrei. Heute würde ich sagen: Die Zahl ist eigentlich größer, weil da die Importe gar nicht drin sind.
Wie kamen Sie auf eine Lösung?
Ich bin seit acht Jahren in der Jury des alternativen Nobelpreises – mein schönstes Ehrenamt! Wenn man sich für den alternativen Nobelpreis engagiert, weiß man: Es ist eigentlich genug für alle da, man muss es nur gerecht verteilen. Deshalb hat das Debakel mit den Shampooflaschen bei mir zum Nachdenken geführt: Die einen würden es gerne spenden, die anderen würden es gerne haben, aber die kommen nicht zusammen. Wie kann man das anders organisieren? Wir haben im Lauf der Recherche die britische Organisation In Kind Direct entdeckt, eine gemeinnützige Online-Plattform, die Prinz Charles vor 20 Jahren in England selbst gegründet hat und die direkt zwischen Firmen und gemeinnützigen Organisationen vermittelt. Da dachten wir, Mensch, die machen ja genau das, was wir suchen. Können wir gemeinsam überlegen, wie wir das ans Laufen kriegen? Die wollten sowieso international expandieren, und Prinz Charles übernahm auch die Schirmherrschaft für Deutschland.
Prinz Charles hat Sie dazu gebracht, Ihren gutbezahlten Job aufzugeben? Sie waren 16 Jahre bei Boston Consulting.
Nicht er, sondern die Idee. Da stehen Sie und wissen, Sie haben die Lösung. Tag für Tag werden Millionenwerte weggeworfen, die anderswo gebraucht werden. Da muss man sich einfach entscheiden zu springen. Sowas wie Innatura können Sie nicht nebenbei aufbauen. Ich dachte, das ist ein so großer Hebel, den wir hier an die Hand kriegen, den bekommt man nicht oft im Leben. Irgendwann sagte jemand: Wir haben schon wieder einen LKW zur Müllverbrennung gefahren, wann fangen Sie an? Da muss man eines Tages tief Luft holen und sagen, ich mach das.
Dann haben Sie 2011 Innatura gegründet. Wie funktioniert es?
Wir mussten erst einmal die Logistik aufbauen. Wir haben hier in Köln ein Lager mit 1.000 Quadratmetern. Wir haben mit drei LKWs Säuglingswindeln angefangen. Aus der ersten Palette haben wir erstmal eine Packung Windeln in den Palast nach London zu Prinz Charles geschickt, um Danke zu sagen, dass er unser Schirmherr ist. Er hatte damals gerade seinen ersten Enkel bekommen. Dann kam Beiersdorf: Wir haben schon wieder einen LKW mit Nivea… Beiersdorf war wie ein Geburtshelfer für Innatura. Schließlich kam Amazon dazu, inzwischen unser zweitgrößter Spender, und heute haben wir über 70 Unternehmen, die uns bespenden. Wir bitten die Spender in der Regel, uns die Sachen kostenlos anzuliefern, aber manchmal müssen wir sie selber abholen. Adidas hat dem Netzwerk einmal 20 LKW Fussballschuhe angeboten, in diesem Fall holten wir selber drei Laster in Birmingham ab. Ich bin früher auch selbst Tanklastwagen gefahren, von daher macht mir Logistik keine Angst.
Wie verteilen Sie die Sachen an die Empfänger?
Jede gemeinnützige Organisation in Deutschland kann sich kostenlos anmelden. Wir haben 3.500 bei uns registriert, und davon 1000, die regelmäßig bestellen. Die suchen sich aus unserem Online-Katalog aus etwa 1500 Produkten heraus, was sie brauchen. Die Empfänger zahlen nur eine Vermittlungsgebühr und den Transport. Damit bekommen sie zum Beispiel 100 Windeln für 5 Euro oder zwei Flaschen Shampoo für 60 Cent. Manche holen auch selbst ab oder wollen erstmal sehen, wie das hier bei uns ist. Da kommen Fragen wie: Weiß der Vorstand von Beiersdorf, was Sie hier machen? Ja, der hat das höchstselbst unterschrieben. Oder, sind das Sachen, die irgendwo vom LKW gefallen sind? Nein, sind sie nicht. Wir sammeln hier nicht die Reste auf, das ist alles fabrikneue Ware.
Wieviel haben Sie in den letzten Jahren mit dieser Initiative an Müll eingespart?
Wir nähern uns 2000 Tonnen. Wir kratzen an 16,5 Millionen Euro Warenwert, die ohne uns in den Abfall gewandert wären. Dem sozialen Sektor haben wir damit etwa 13 Millionen Euro gespart. Eine Studie der Uni Köln hat ergeben, dass wir etwa 500.000 Menschen erreicht haben. Nicht, dass die alle Zahnpasta bekommen hätten, aber eine Kinderhilfseinrichtung in Brühl hat sich von dem ersparten Geld zum ersten Mal Musiktherapie geleistet, 6000 Sonnenbrillen gingen nach Kambodscha, unter anderem für Patienten nach Augenoperationen, oder wir haben mal 30.000 Stücke Bekleidung von Levi's bekommen, damit haben wir alle Berliner Flüchtlingseinrichtungen und Kleiderkammern für Obdachlose versorgt.
Warum machen nicht alle Firmen mit?
Eines der Probleme ist, dass Spenden in Deutschland teurer ist als Wegwerfen. Innatura ist zwar selbst gemeinnützig, und wir stellen den Unternehmen Spendenquittungen aus, aber die Unternehmen müssen auf die Spenden Umsatzsteuer zahlen. Wir mussten anfangs alles zu Marktwerten ansetzen, das kann für die Firmen also ganz schön ins Geld gehen. Für jedes Unternehmen, das mitmacht, gibt es auch mindestens eins, das sagt: Ist zu teuer, machen wir nicht. Wenn sie es einfach entsorgen, können sie es als Totalverlust abschreiben.
Das heißt, Sie müssen erst einmal Überzeugungsarbeit leisten?
Ich brauche in der Regel von der Vorstellung bis zur ersten Spende mindestens ein Jahr Vorarbeit mit den Unternehmen. Da sind oft 7 oder 8 Abteilungen beteiligt. Es gibt auch Unternehmen, die lügen und sagen: Wir werfen nichts weg. Und wir wissen von deren Logistikunternehmen ganz genau: Da wird reichlich entsorgt. Manche wissen auch nicht, dass Dinge, die falsch etikettiert sind, verteilt werden dürfen – indem man zum Beispiel einfach digital das richtige Etikett dazu legt. Viele Firmen sagen auch: Sowas haben wir gar nicht. Meine Antwort: Dann lassen Sie uns mal durch die ganze Wertschöpfungskette gehen. Wenn der Roboter zur Qualitätssicherung immer wieder mal eine Flasche rausnimmt, darf die nicht wieder in den Karton. Den Rest dieses Kartons hätte ich gerne.
Was sind Ihre größten Herausforderungen?
Die Logistik, denn diese Spenden passieren ungeplant und in großen Mengen. Wir schaffen das mit viereinhalb Vollzeitkräften plus Praktikanten und Freiwilligen. Das ist ziemlich schlank. Unser größter Engpass sind Basisprodukte: Windeln, Waschmitteln, Shampoo, Toilettenpapier, Spülmaschinentabs, das sind die Dinge, die in den Einrichtungen jeden Tag gebraucht werden. Aber davon kriegen wir nicht genug.
Vermitteln Sie auch Lebensmittel?
Keine verderblichen, da arbeiten wir mit den Tafeln zusammen, wenn wir Sachen angeboten kriegen. Wir nehmen gerne Dauerwaren wie Babynahrung, Kaffee, Tee oder Nudeln.
Was wünschen Sie sich, damit mehr Firmen das Problem angehen?
Ich wünsche mir, dass es viel bekannter und selbstverständlicher wird, dass man auch intern guckt: Wo fallen denn potenzielle Spenden an? Spender sollten wissen: Wir können nie genug kriegen. Dann ist noch wichtig zu wissen: Wir kriegen keine öffentliche Förderung, weil wir nicht direkt mit Betroffenen arbeiten, sondern wir sind eine Charity für Charities. Das ist verrückt. So ist es ganz oft: Sie bringen eine Lösung, von der der gesamte soziale Sektor profitiert, aber es gibt keine Finanzierung dafür. Das ist der Grund, warum viele tolle Ideen deshalb nicht umgesetzt werden.
Wie haben Sie Innatura dann finanziert?
Wir haben fast eine Million investiert, zusammen mit anderen Gesellschaftern. Ich habe das Glück, finanziell unabhängig zu sein, weil ich mit meiner Schwester ein kleines Familienunternehmen führe. Ich bezahle mir bei Innatura kein Gehalt, sondern schaffe lieber neue Arbeitsplätze. Wenn man in der privilegierten Situation ist, das machen zu können, sehe ich das als Verpflichtung. Denn das Modell ist einzigartig und extrem wirkungsvoll für den ganzen sozialen Sektor.