Das Problem: Klimaerhitzung, verursacht durch zuviel CO2 in der Atmosphäre.
Die Lösung? Liegt buchstäblich unter unseren Füßen.
Was tun? Küss die Erde.
In diesen 30 Quadratmetern Garten in Venice, Kalifornien, soll also die Lösung vergraben sein? Die Lösung für die drängendste, weltweit größte Gefahr für unseren Planeten? Ein halbes Dutzend ehemals obdachlose Jugendliche durchpflügen für das Pilotprojekt in Handarbeit das braune Hochbeet in dieser ruhigen Seitenstraße, pflanzen zwischen Pfirsich- und Limonenbäumen unter der schon vorglühenden Herbstsonne Tomatensetzlinge, deren Früchte sie in einigen Monaten ernten werden. Aber die Tomaten sind erstmal nur ein Nebenprodukt: Es geht nicht um Grünzeug, sondern um viel mehr; es geht um alles. Um die Zukunft unseres Planeten. Und um den Boden, auf dem diese Zukunft beruht.
»Der Boden wird uns retten«, sagt Dokumentarfilmer Josh Tickell, 42, Autor des neuen Buches Kiss the Ground. »Aber erst müssen wir den Boden retten.«
Kiss the Ground ist auch der Name der gemeinnützigen Organisation in Venice, die Tickells Freund, der Unternehmer Ryland Engelhart gegründet hat, um »regenerative Landwirtschaft« voranzutreiben. Das Prinzip ist einfach und uralt, jeder Bauer kennt es, wenn er es nicht in den Jahrzehnten industrieller Feldbestellung vergessen hat: Der Bauer muss den Mutterboden, auf dem seine Ernte gedeiht, auch wieder regenerieren und schützen. Was hat das mit dem Klimawandel zu tun? In der Atmosphäre verursacht zuviel CO2 Klimaerwärmung, eine Übersäuerung der Meere, und fördert durch die Meereserwärmung verheerende Hurrikane. Aber im Boden ist Kohlenstoff nützlich. Erst in der Atmosphäre reagiert er mit Sauerstoff und bildet CO2. »Kohlenstoff ist der grundlegendste und wichtigste Baustein des Lebens«, sagt Tickell. »Wo Kohlenstoff im Boden ist, ist Wasser. Und wo wir Kohlenstoff und Wasser finden, finden wir Nahrung.« Seine These: »Wenn wir Kohlenstoff im Boden binden, können wir das CO2 aus der Atmosphäre zurückholen.«
Gerade hat die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) bekanntgegeben, dass die Kohlendioxid-Konzentration im vergangenen Jahr schneller stieg als jemals zuvor. 850 Gigatonnen CO2 hat die Menschheit laut der Ohio State Universität seit Anbeginn der Landwirtschaft in die Atmosphäre geblasen, aber das allermeiste davon in den letzten Jahrzehnten. Tendenz stetig steigend – wegen der Abgase, der Ölindustrie, aber eben auch der industriellen Landwirtschaft. Monokulturen, Unmengen Pestizide, maschinelles Umackern und flächendeckende Abholzung lassen die Böden schutzlos und ausgelaugt zurück. Das heißt auch: Sie entlassen mehr Kohlenstoff in die Atmosphäre. Experten, etwa von der International Federation of Organic Agriculture Movements, schlagen Alarm, dass wir den Humus in einem Rekordtempo zerstören, das uns in einigen Jahrzehnten mit versteppten Flächen zurück lassen wird, auf denen nichts mehr wächst. Jede Minute verlieren wir 30 Fußballfelder des nährstoffreichen Mutterbodens, haben sie ausgerechnet. Wenn wir in dem Tempo weitermachen, geht uns in 60 Jahren der Humus aus.
Seit Beginn der Landwirtschaft hat der Planet laut der Ohio State University 50 bis 70 Prozent seines natürlichen Kohlenstoffs aus der Erde in die Atmosphäre entlassen. Um ihn zurück zu bringen, braucht es keine komplizierten Apparate – die Natur selbst hat die effektivsten Kohlenstoff-Maschinen schon geschaffen: Pflanzen. »Sie brechen das CO2 aus der Atmosphäre in seine Bestandteile und binden Kohlenstoff im Boden«, erklärt Don Smith, der Wissenschaftliche Direktor von Kiss the Ground. »Sequestrieren« nennt man diesen Vorgang auch. Landwirtschaftliche Methoden, die auf Rekordernten ausgerichtet sind, stören den Prozess, erklärt Smith. »Methoden wie Kompostierung und Biodiversität helfen dagegen dabei, die Bodenregenerierung zu unterstützen.« Stolz öffnet er in Venice die Klappe der großen, grünen Komposttonnen und freut sich über die vielen Würmer, die darin dem Sonnenlicht entgegen krabbeln.
»Die Ironie dabei ist, dass das Carbon Farming mehrere Probleme auf einmal löst: es verbessert die Fruchtbarkeit der Böden, verhilft den Bauern zu besseren Erträgen und erlaubt den Weltmeeren, CO2-ärmer und damit weniger sauer zu werden«, sagt Tickell. »Ob wir es regenerative Landwirtschaft, Agroökologie oder Biosequestrierung nennen, die Vereinten Nationen sind derzeit blind für die eine einfache Lösung für Kohlenstoffemissionen.« Der jungenhafte Tickell mit dem rotblonden Stoppelbart sieht darin die Weichenstellung für die Zukunft: »Die Frage, wie wir uns ernähren, wird entscheidend dafür sein, ob unsere Zivilisation überlebt. Was wir essen, hat wesentlich mehr Folgen für unsere Zukunft als womit wir fahren oder woher wir unseren Strom bekommen.« Ohne die Böden zu reparieren, können wir das Klima nicht retten.
Vor allem Stéphane Le Foll, bis Mai dieses Jahres französischer Landwirtschaftsminister, hat energisch die Initiative »4 per 1000« vorangetrieben. Er verlässt sich auf Probestudien, die besagen: Das CO2 lässt sich wieder aus der Atmosphäre holen und im Boden sequestrieren, wo der Kohlenstoff keinen Schaden anrichtet, sondern ganz im Gegenteil nützlich ist. »Wenn wir den Kohlenstoff im Boden jedes Jahr um 0,4 Prozent erhöhen, binden wir dort sechs Gigatonnen CO2«, so seine Rechnung. »Das kompensiert für die 4,3 Gigatonnen Kohlendioxid, die der Mensch jedes Jahr in die Luft bläst und lässt noch Spielraum für das natürliche CO2, das Pflanzen ausstoßen.« Positive Nebeneffekte laut Le Foll: »Die Erde wird nährstoffreicher und fruchtbarer, damit sichern wir die landwirtschaftliche Produktion, um die Weltbevölkerung zu ernähren. Wenn wir dagegen so weitermachen wie bisher, verlieren wir die Biodiversität in den Böden, die Versteppung schreitet voran, und wenn ein Boden einmal unfruchtbar geworden ist, dauert es sehr, sehr lange, den Prozess wieder umzukehren.« Le Foll erinnert im Gespräch mit Tickell an das Grundsätzliche: »Die 60 Zentimeter Erde überall auf dem Planeten geben uns Leben, erlauben uns, Tiere zu halten, Obst und Gemüse anzubauen, aber wir haben den Boden vergessen. Wie gehen darauf, trampeln darauf herum und nehmen ihn nicht einmal bewusst wahr. Der Boden muss ins Zentrum, in das Herz der Debatte rücken.«
In Amerika, Australien, einigen afrikanischen und europäischen Ländern, wird »Carbon Farming« intensiv diskutiert, in Deutschland steht die Idee erst am Anfang. Auch deshalb, weil unser Land ein Flächenproblem hat - es gibt nicht genügend Land, um im großen Stil wieder aufzuforsten. Aber das Problem ist zu drängend, als dass nicht auch Deutschland seinen Teil zur Lösung beitragen müsste. Klaus Becker, Agrarwissenschaftler an der Uni Hohenheim, hat über 100 Länder bereist und unter anderem Steppen in der Sahara mit besonders klimafreundlichen Jatropha-Pflanzen wieder aufgeforstet. Bis zu 25 Tonnen Kohlendioxid lassen sich damit pro Hektar jedes Jahr aus der Atmosphäre holen. Der Effekt ist beeindruckend: Würde man nur drei Prozent der arabischen Wüste so begrünen, ließe sich damit der komplette Kohlenstoff-Ausstoß aller Fahrzeuge in Deutschland binden. Becker glaubt aber, dass das Prinzip auch in Deutschland selbst funktioniert, vor allem mit mehrjährigen Pflanzen und schnell wachsenden Wäldern wie Pappeln: »Unser Klima reicht aus, um mit Umtriebswald pro Hektar acht bis zwölf Tonnen CO2 pro Jahr zu sequestrieren. Das ist echter Netto-Entzug aus der Atmosphäre.«
Becker weiß: »Umweltschutz, der nur kostet, funktioniert nicht, aber hier gibt es auch einen echten ökonomischen Nutzen. Hier wird CO2 effektiv aus der Atmosphäre entzogen, das wäre neben der Bio-Landwirtschaft die effektivste Art, die CO2-Belastung zu reduzieren. Früher haben die Bauern Drei-Felder-Landwirtschaft betrieben, die Felder ruhten zwischendurch jährlich. Wenn die Felder ständig bestellt werden, verlieren Sie den Humus.« Becker hält das »Carbon Farming« für wesentlich sinnvoller als etwa Pläne, CO2 im Untergrund zu vergraben. »Das brächte einigen Industriezweigen Profit, ist aber Unsinn. Es gibt nichts Besseres zur Reduktion von CO2 als Pflanzen. Wenn wir diese Umtriebswälder pflanzen, keine Monokolturen, dann kriegen wir das hin.« Und auch er sagt: »Ohne Rücksicht auf die Böden wird die Welt nicht funktionieren.«
Um tatsächlich das Weltklima zu beeinflussen, reichen die kleinen Probefelder in Venice und anderswo natürlich nicht aus. Kiss the Ground arbeitet intensiv daran, nicht nur Bauern und Universitäten, sondern auch Politiker und Nahrungsmittelkonzerne für die Idee zu begeistern. Tickell hat drei Szenarien berechnet, ein ideales, ein realistisches und einen Worst Case: »Wenn wir es richtig machen, können wir das meiste, wenn nicht das ganze Kohlendioxid, das von Menschen rausgeblasen wurde, wieder binden«, sagt Tickell. Ein Zuwachs von nur zwei Prozent des Kohlenstoff-Gehalts im Boden könnte 100 Prozent aller CO2-Emissionen ausgleichen. Das sei nicht nur möglich, sondern ein Muss: »Das Best-Case-Szenario mag wie blasse Theorie erscheinen, vielleicht sogar naiv, und wir müssen uns natürlich trotzdem unabhängig von Kohle und Öl machen, aber es ist das erste mathematische Modell, das unserer Spezies echte Hoffnung auf eine Zukunft macht.«
Der Clou daran ist, dass dazu nicht nur Bauern, Winzer und Konzerne, sondern jeder Mensch etwas dazu beitragen kann – und zwar durch klimafreundliche Ernährung. Tickell fordert übrigens keine rein vegane Lebensweise. Er rät in erster Linie zu Wurzelgemüse, eiweißreichen Bohnen und Bio-Obst, lässt aber sogar Rinder und Bisons aus Weidewirtschaft auf dem Speiseplan. »Es geht nicht um vegan gegen Paleo, sondern wir müssen uns für ein Nahrungssystem entscheiden, das die Flora, Fauna, den Planeten und die Menschen respektiert», sagt er. »Die Zeit ist reif, dass wir uns entscheiden: Wenn wir leben wollen, müssen wir uns dazu herablassen, den Boden zu küssen.«
Sein Freund und Kollege Ryland Engelhart, der Gründer von Café Gratitude, einer Kette veganer Cafés geht aber einen Schritt weiter: Wenn alle Menschen sich vegan ernähren, ließe sich der CO2 Ausstoß bis 2050 um 70 Prozent verringern. Problem gelöst. Aber in ganz so utopische Träume versteigen sich selbst die Vorreiter der Bewegung in Venice nicht. Wir wollen ja hier keine Luftschlösser bauen, sondern im wahrsten Sinn des Wortes auf dem Boden bleiben.
Fotos: Schlierner/Fotolia.de; Kiss The Ground