Das Problem: Um Deutschland zu hundert Prozent mit erneuerbaren Energien zu versorgen, müssen wir den Anteil der Solarenergie massiv aufstocken, auf etwa 70 Prozent. Aber wohin mit all den Paneelen?
Die Lösung: Landwirtschaft unter Solarpaneelen
Wer sich der Hofgemeinschaft Heggelbach in der Bodenseegegend nähert, sieht ein ungewöhnliches Zusammenspiel von bäuerlicher Tradition und technischer Avantgarde: Vor dem urigen Hof mit den sonnengelb gestrichenen Wänden gackern die Hühner; die majestätischen Braunviehrinder suchen sich auf den hügeligen Wiesen ihr eigenes Futter; in der Käserei reift der vielfach ausgezeichnete Camembert – und auf einer 2500 Quadratmeter großen Fläche neben dem Hof schimmert modernste Solartechnik. In gut sechs Metern Höhe liegen die 720 Solarpaneele auf einer Stahlkonstruktion über den Kartoffeln, dem Weizen, dem Kleegras und dem Sellerie. Sie halten im Winter einen Teil des Schnees ab, spenden in der Sommerhitze Schatten und sind dabei so hoch, dass Bauer Florian Reyer mit seinem Traktor unten durchfahren kann.
Die biodynamische Hofgemeinschaft Heggelbach, die sich den strengen Demeter-Regeln verpflichtet hat, versucht ein radikales Experiment. Sie hat mit Hilfe des Bundesforschungsministeriums, des Freiburger Fraunhofer Instituts für Solare Energiesysteme (ISE) und der Uni Hohenheim die bisher größte deutsche Solaranlage gebaut, unter der Gemüse und Getreide wachsen. Die vier Sorten sind bewusst gewählt: »Die Forscher wollten ein Gemüse, ein Getreide, ein Gras, und eben Kartoffeln als typisch deutsches Grundnahrungsmittel,« erklärt Reyer, 40, der im Hof für die Landwirtschaft zuständig ist.
Im Sommer 2016 stellten die Forscher die 663.000 Euro teure Versuchsanlage in die idyllische Landschaft, drei Jahre lang maßen und testeten sie Temperaturen, Ernteertrag und Niederschlag, und nun sind die Ergebnisse da, die sich sehen lassen können. Die Vorteile: Die Anlage produzierte von Anfang an mehr Strom als prognostiziert, und auch die Wartung ist weniger aufwändig als befürchtet. »Wir haben gedacht, wir müssten die Paneele viel öfter putzen,« sagt Reyer. »Selbst im Winter rutscht der Schnee einfach ab.«
Die Hofgemeinschaft hat die Anlage vom Fraunhofer-Institut gepachtet, damit sie den Strom für Eigenbedarf, Melkmaschine und Käserei nutzen kann. Den Rest speisen sie ins Stromnetz ein, vor allem im Sommer, wenn die Anlage mehr produziert als die Gemeinschaft verbraucht. Die Nachteile: »Der Strom wird in dieser Form immer teurer sein als Freiflächen-Anlagen, wo die Module auf optimalen Ertrag ausgerichtet sind,« sagt Reyer ehrlich. Aber Rendite ist eben auch nicht alles.
Die Hofgemeinschaft geht seit mehr als einem Jahrzehnt einen energetischen Sonderweg: Schon 2006 installierte sie die ersten Solarpaneele auf dem Dach, 2008 die erste Serien-Holz-Kraft-Anlage, einen sogenannten Holzvergaser, der die Wohnhäuser, die Heutrocknung und die neue Käserei beheizt. »Wir haben uns auf den Weg gemacht zu einer eigenen, umweltfreundlichen und ressourcenschonenden Erzeugung von Energie und einem möglichst nachhaltigen und sparsamen Umgang mit eben dieser«, heißt es im Hofmanifest. Für die Umsetzung ihres nachhaltigen Energiekonzeptes und die Nutzung nachwachsender Rohstoffe wurde die Hofgemeinschaft Heggelbach schon 2009 von Eurosolar mit dem Deutschen Solarpreis ausgezeichnet.
Eine konventionelle Solarpanelen-Freiflächenanlage – also eine am Boden, die im Zweifel eine landwirtschaftlich nutzbare Fläche verdrängt – stand für sie nie zur Debatte. »Das ist nicht nachhaltig und ethisch nicht vertretbar,« sagt Reyer mit überraschender Schärfe in der Stimme bei unserem Zoom-Gespräch. »Ich sehe das sehr kritisch, wenn wir landwirtschaftliche Flächen weiter zubauen mit Anlagen zur Stromgewinnung.«
Solarparks belegen derzeit in Deutschland mehr als 10.000 Hektar Ackerland. Bis zu 5000 Euro Pacht zahlen Solarparkbetreiber; damit können Bauern kaum konkurrieren. »Ich könnte mich aufs Sofa setzen, mich zurücklehnen und mit einem Solarpark mehr verdienen als wenn ich auf dieser Fläche mit meiner eigenen Arbeitskraft Weizen oder Kartoffeln anbaue,« sagt Reyer kopfschüttelnd. »Das kommt für mich überhaupt nicht in Frage.«
Würde ein knappes Prozent der Anbauflächen weltweit mit Solarmodulen bebaut, könnte der globale Strombedarf gedeckt werden, rechneten die Forscher der Oregon State University im Wissenschaftsmagazin Scientific Reports vor. Das klingt nach machbar wenig Fläche, zerstört aber ohnehin knappes Ackerland. Bereits jetzt werden etwa zweieinhalb Millionen Hektar landwirtschaftliche Flächen in Deutschland für Mais, Raps und andere Monokulturen genutzt, aus denen sogenannter Biodiesel oder Biogas gewonnen wird. Und in den letzten 50 Jahren ist die Ackerfläche weltweit pro Kopf um knapp die Hälfte gesunken. Die Wiesen werden zubetoniert, zugepflastert, zugebaut. Unser Stromhunger führt zu echtem Hunger. Deshalb fordern Bauern wie Reyer, nur unbestellbare Flächen für Solarparks zu nutzen. Die Konkurrenz von Strom und Schnittlauch hält Reyer für fatal.
Reyer ist Bauer aus Leidenschaft, »ein technikaffiner Landwirt, kein Techniker«, sagt er klar. Er wuchs als Kind auf einem Hof auf, seine Eltern zählten zu den Gründern der Gemeinschaft. Inzwischen lebt er mit seiner Frau, den drei Kindern und vier anderen Familien auf dem Hof, und man muss ihn nur ein bisschen anstupsen, damit er im kernigsten Alemannisch von seinen Sorgen und Hoffnungen erzählt. »Natürlich kann ich oben Strom hinstellen und darunter noch ein paar Mischungen säen oder ein paar Schafe weiden lassen. Aber das ist es ja nicht. Damit können wir die Bevölkerung nicht ernähren.«
Deshalb wurde er sofort neugierig, als die Fraunhofer Forscher mit der Idee zur Agrophotovoltaikanlage (APV) ankamen. Oben Solar, unten Sellerie, das könnte die Zukunft für Millionen Landwirte auf der Welt sein. Mit Schafen und Rindern, die unter dem Schatten der Module grasen, funktioniert das für manche Landwirte schon ganz gut, neu und aufwändiger aber ist der Anbau von Getreide und Gemüse unter den Anlagen.
In Südkorea und China planen die Regierungen massive Förderprogramme für Hunderttausende von Agri-Photovoltaik-Anlagen, unter anderem auch mit innovativen Modulen, die sich nach der Sonne ausrichten oder Sonnenstrahlen so filtern, dass sie den Pflanzen zugute kommen. »Im Südkorea werden die Anlagen bewusst volkswirtschaftlich eingesetzt, weil sie zuwenig Landwirte haben, ähnlich wie wir auch,« sagt Reyer, der die internationalen Entwicklungen genau beobachtet. »Die APV finanziert dann die Rentenfonds, und die Jungbauern können ohne Belastung da drunter arbeiten. Meiner Meinung nach müssen wir über sowas auch nachdenken, wenn wir das wirklich zum Nutzen der Landwirtschaft einsetzen wollen ohne die Verschuldung zu erhöhen.«
Im Wendland baut Agrosolar Europe mit Anschubfinanzierung vom Bund derzeit bei Lüchow eine neue große APV, unter der pro Jahr 30 Tonnen Schnittlauch und andere Kräuter gedeihen sollen. Als »Win-Win-Situation für das Klima, für eine zukunftsfähige Landwirtschaft und die Lebensmittelerzeugung« hatte Staatssekretär Jochen Flasbarth im Juni 2021 die Pläne bejubelt.
Ganz so einfach ist es aber nicht. »Die Anbauerträge sind gut 10 bis 15 Prozent niedriger,« hat Reyer in Heggelbach festgestellt. Gleichzeitig ist der Arbeitsaufwand für ihn um 10 bis 15 Prozent höher, weil er mit dem Traktor um die Stahlgerüste kurven muss. »Finanziell kann der Ernteverlust durch die Energiegewinnung wieder ausgeglichen werden,« sagt Reyer. Die Paneele sind nämlich bifazial, das heißt, sowohl Vorder- als auch Rückseite wandeln Sonnenlicht in Strom um.
Der Ernteertrag aber hängt stark vom Wetter ab. »Das Jahr 2018 war extrem trocken, das Jahr davor extrem regenreich und kalt,« sagt Reyer über die letzten Versuchsjahre. »In Dürrejahren reagieren die Pflanzen positiv auf die Beschattung; bei viel Regen dagegen ist das Hauptproblem, dass sich das Wasser durch die Paneele sehr ungleich verteilt.«
Weil der Planet bekanntlich heißer wird, sind die Paneele also durchaus eine zukunftsträchtige Lösung, vor allem auch in wärmeren Gefilden, wie Testflächen in Arizona zeigten. Dort fielen die Chili und Tomatenernten unter Solarpanelen üppiger aus.
Als Demeter-Landwirt jongliert Reyer mit mehreren Anliegen und Ressourcen: Bodenqualität, Biodiversität, Fruchtfolge, Ertrag, Energie, Arbeitskraft, listet er als Beispiele auf. Reyer wünscht sich in unseren Breitengraden mehr Forschung, zum Beispiel wie die ungleiche Wasserverteilung unter den Paneelen gelöst werden kann. Derzeit ist er im unbezahlten Nebenberuf Berater für Kollegen. »Ich bekomme fast täglich Anrufe von anderen Bauern, die das ausprobieren wollen,« sagt er. »Aber eigentlich bräuchten wir noch mal vier oder fünf Jahre, um das wirklich sinnvoll weiter zu erforschen. Das Geld gibt es aber nicht, weil das Forschungsprojekt auf die Zeit begrenzt ist. Es ist extrem schwierig.«
Die neue Bundesregierung hat »innovative Solarenergie« eigens im Koalitionsvertrag festgeschrieben. »Grundsätzlich habe ich die Vision, dass wir als Hof unseren Energiebedarf komplett autark decken können, aber unter der Prämisse, dass die nachhaltige Landwirtschaft im Fokus steht,« sagt Reyer. »Preislich hat der Strom in unserer Gesellschaft mehr Wert als die landwirtschaftlichen Produkte, und das sehe ich als die größte Diskrepanz: Wir geben dem Strom mehr Wert, weil unsere Teller voll sind.«
Also: Ein Problem lösen die Solarbauern. Aber das größere Problem, nämlich dass wir den Strom mehr schätzen als den Sellerie, das können sie nicht alleine lösen.