Es war mein sechster Dienst am Stück, das weiß ich noch, als eine Frau mit schweren Blutungen und Schmerzen eingeliefert wurde. Uterusruptur, also Riss der Gebärmutter, wahrscheinlich durch Gewalteinwirkung. Es waren dramatische Stunden. In einem Raum wurde das Kind reanimiert, im anderen um das Leben der Mutter gekämpft. Nur sie überlebte.
Zwei Stunden nach diesem Horror – ich hatte eigentlich längst frei – saß ich am Schreibtisch und versuchte, alles noch einmal haarklein zu rekapitulieren für die Patientenakte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt seit zehn Stunden keine frische Luft geatmet und war kaum gesessen. Ausgelaugt, benommen und empfindsam, als hätte jemand mein Innerstes auf Links gedreht, ging ich danach zur S-Bahn. Da kam eine Whatsapp von meinem Kletterfreund Hannes: »Hey Maja, kommst du? Wir warten schon!« Verdammt, die Klettergruppe! Jetzt würde ich es eh nicht mehr schaffen. Weder zeitlich, noch emotional. Ich kann so schnell nicht von »Baby tot« auf »Hey, Leute« umschalten. Ich schrieb: »Es tut mir wahnsinnig leid, aber ich bin grade erst aus der Arbeit raus, war eine heftige Schicht. Ihr müsst heute ohne mich die Wände hochgehen.«
Danach ging ein Whatsapp-Regen auf mich nieder: Termin war so schwer zu finden. Gib dir nen Ruck. Wir sind alle auch müde. Haben auch krasse Jobs. Ich hätte gern geschrieben, was genau passiert war, aber Hannes' Freundin war schwanger, ich wollte niemanden verängstigen, also schrieb ich nur »Mann Leute, lasst mich einfach«, gefolgt vom traurig nach unten guckenden Smiley. Der Abend endete damit, dass ich allein daheim saß, aufgewühlt vom Erlebten und unausgeglichen, weil mir der Sport und meine Freunde fehlten.
Ich gebe zu, ich habe ein Abgrenzungsproblem. In sozialen Berufen wie meinem – also in der Pflege, als Lehrer, Pfarrer oder Sozialarbeiter – sind, so glaube ich, all diejenigen gut, die nah am Menschen sind, die sich berühren lassen von ihren Patienten, Schülern und Schäfchen. Die sich eben nicht sonderlich abgrenzen. Und natürlich sind es genau die, die immer kurz davor sind, dem Burnout die Hand zu geben.
Die Horrorwoche ging weiter: Jakob meldete sich. Seit Tagen versuchte ich mit meinem aktuellen Tinder-Flirt eine dritte Verabredung auszumachen und ich konnte inzwischen live dabei zusehen, wie er sich innerlich verabschiedete. Dabei war das erste Treffen mit ihm erfrischend und das zweite, bei einem Konzert, durchaus flirtiv gewesen: Im Dunkeln hatten sich unsere Hände kurz berührt, woraufhin mein Herz bis in meinen Hals geklopft hatte, als wollte es mich daran erinnern, dass es das ja auch noch gibt: Verliebtsein.
Seitdem waren zwei Wochen ins Land gegangen, in denen wir es nicht geschafft hatten, uns erneut zu verabreden. Erst hatte ich tagelang Spätschicht, dann Wochenend-Dienst und dann, Anfang der Woche, meine Kletterverabredung, die ja dann doch nicht stattfand. Jedenfalls schrieb er am Tag danach: »Huhu, nicht böse sein, aber ich bin raus. Du meldest dich ja doch nie.« Na toll.
Das war dann der x-te Abend in Folge, an dem ich traurig zuhause saß, in einen leeren Kühlschrank blickte, weil ich es nach Dienstende nicht mehr in den Supermarkt geschafft hatte, und mich fragte, ob hier nicht etwas gehörig schief lief. Tatsächlich hat mein Beruf noch in fast jeder Beziehung oder Affäre eine unschöne Rolle gespielt: Da war der Ex-Freund, der mir vorwarf, ich rede zuviel über das Krankenhaus. Der andere, der immer beleidigt war, wenn ich nach der Arbeit zu erschöpft war, um noch etwas zu unternehmen. Und die Halb-Affäre, die beim Abendessen »echt nichts über Geburten wissen wollte«.
Es stimmt schon: Es hilft mir, die krassen Erlebnisse durch Reden »aus meinem System« zu bekommen. In manchen Kliniken wird das ja in Form von Supervisionen sogar zum Schutz der Mitarbeiter angeboten. Bei uns allerdings bislang nur zweimal, nach ganz extremen Erlebnissen, nicht regelmäßig. Und so erzähle ich halt meinem Umfeld viel, was ich im Job so erlebe. Ist das so verwerflich? Ich kann doch auch nichts dafür, dass andere in ihren Büros oder Agenturen nicht so existentielle Dinge erleben. Und ich bemühe mich wirklich immer, es kurz zu halten.
Nach einer Nacht, in der die Dämonen in meinem Kopf mal wieder eine Party gefeiert hatten, schleppte ich mich unmotiviert in die Arbeit, wie ein Hamster, der sich ins Rad hievt. Dort angekommen, musste ich mich sofort ärgern. Der Schreibtisch, den ich am Abend zuvor noch aufgeräumt hatte, versank schon wieder im Chaos. Dann motzte ich erst den Arzt und dann meine Hebammenkollegin an, warum Frau S. eigentlich noch nicht entlassen und die Apothekenbestellung vor dem Wochenende nicht aufgegeben worden war.
Und dann betrat ich den Kreißsaal, in dem Frau N. schon seit gestern abend ihre Wehen veratmete. In ihrer Begleitung: ihr Mann sowie circa zehn Verwandte, die entweder mit im Zimmer oder auf den Wartebänken draußen abhingen. Mit ihrem Partner war ich schon am Vortag aneinandergeraten, weil er sich beschwert hatte, »dass er noch keinen Arzt gesehen hat«. Wohlgemerkt, nachdem die Assistenzärztin 20 Minuten lang seine Fragen beantwortet hatte. Seitdem hat er immer wieder das Sprachrohr seiner Frau gegeben. Das hasse ich: Wenn die Frauen zu mir zuckersüß sind, aber alles »Unangenehme« über ihren männlichen Pressesprecher verbreiten.
Nun ging es darum, dass mehr als zwei Familienmitglieder bei der eigentlichen Geburt dabei sein wollten. Ich ließ mich breitschlagen, dass ausnahmsweise drei festgelegt werden (das machen wir schon manchmal, so ja auch neulich bei der alleinstehenden Frau). Aber die restlichen zehn sollten draußen warten. Dann versuchte Familie Oberschlau diese Regelung zu umgehen, indem sie ständig rein- und rausschlichen, als wäre der Kreißsaal ein Club oder ein Wiesn-Zelt, bei dem man mit dem Einlass-Bändchen tricksen konnte.
Ich merkte das natürlich und reagierte streng, sagte: »Leute, das hatten wir doch extra vereinbart. Wir können so nicht arbeiten und uns konzentrieren! Wir haben eine Sorgfaltspflicht. Es geht auch um die Sicherheit von Ihnen, Frau N., und um die Sicherheit der anderen Gebärenden.«
Was dann passierte, zog mir den Boden unter Füßen weg: Der Mann baute sich vor mir auf, ich konnte die Schallwellen spüren, als er mich anbrüllte, ich solle mich hier nicht so aufmanteln, sie würden einfach den Chefarzt fragen, was ich mir einbilde. Speicheltropfen regneten in meinen Gesicht, der Typ war so in Rage, dass ich Angst hatte, er schlägt mich oder schmeißt einen Stuhl nach mir.
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ohnmächtig, gedemütigt, sprachlos stolperte ich nach draußen und schloss mich im Klo ein. Das schlimmste war: Die Hebammenleitung gab schließlich nicht mir Recht, sondern – aus Gründen der Deeskalation – dem Mann: Die durften dann wirklich in voller Familienstärke in den Kreißsaal. Mit triumphierenden Gesten spazierten sie an mir vorbei, als ich aus dem Klo kam.
Nach dieser Woche, es war Anfang 2016, bat ich meinen Chef um zwei Monate unbezahlten Urlaub. Ich konnte nicht mehr.