Junge-Mädchen-Mädchen-Mädchen-Junge. Dann war es halb fünf Uhr nachts und die Ärztin, deren Handschuhe voller Blut, Schleim und Käseschmiere waren, rief fassungslos von Kreißsaal 2 über den Flur in die 4, wo ich stand: »Wie bitte, noch eins?« Ich hatte sie angepiepst, sie müsse sofort kommen, die nächste Geburt.
Es war die anstrengendste, rekordverdächtigste Schicht meiner Laufbahn, und sie war noch lange nicht vorbei.
Normalerweise mag ich Nachtdienste gerne. Das Krankenhaus ist leer, die Flure sind still. Es sind nur noch die Frauen hier, die wirklich gebären. Und nur dort Licht, wo man es wirklich braucht. Kein Wort wird zuviel gesprochen, jeder Handgriff sitzt. Alles verdichtet sich, wie unter einem Brennglas. Darunter: die Essenz meiner Arbeit.
Tagsüber erscheint mir die Klinik manchmal wie ein großer Bahnhof, Frauen, die erst drei Tage später fällig sind, schieben ihre Bäuche die Gänge entlang, blasse Väter stolpern aus Türen, hinter denen Frauen wie Dampf-Lokomotiven keuchen. Türkische Großfamilien rücken in Vollbesetzung an. Teddy-tragende Freundinnen wollen wissen, wohin »die Susanne« verlegt wurde.
Nachts dagegen: Friede, Freude, Mutterkuchen. Im Schnitt werden in unserem Krankenhaus fünf Babys pro Tag geboren, inklusive Kaiserschnitte. Da nachts keine geplanten OPs angesetzt werden, sind es pro Nachtschicht durchschnittlich nur ein oder zwei Kinder, die zur Welt kommen. Fünf sind schon ein statistischer Ausreißer, aber in dieser Nacht sollten es sieben werden.
Während meine Kollegin und die Ärztin gerade in Kreißsaal 2 Mutter und Baby Nummer 5 versorgten, bereitete ich bei Frau S. alles für die letzten Minuten vor. Sie war schon am Ende ihrer Kräfte und wimmerte unaufhörlich. Kein Mann, keine Angehörigen. Sie krallte ihre Finger in meinen Arm und sah mich an. »Bleiben Sie da, gehen Sie nicht wieder weg.«
Es brach mir fast das Herz. Wie schlimm die letzten Stunden für sie gewesen sein müssen! In dieser Nacht, in der ich von Kreißsaal zu Kreißsaal gehechtet bin, war es unmöglich gewesen, mich um jede Frau angemessen zu kümmern. Das kommt dabei heraus, wenn Krankenhaus-Personal nach betriebswirtschaftlichen Kriterien besetzt wird: Wie in den meisten deutschen Krankenhäusern spart man sich auch bei uns eine Rufbereitschaft – nach dem Motto: Sieben Geburten, wie oft kommt das schon vor? Wir sind gemäß dem statistischen Normalfall von 1-2 Geburten pro Nacht besetzt. Ich habe von manchen Krankenhäusern gehört, dass ihre Kreißsäle jetzt Öffnungszeiten eingeführt haben, in denen Geburten angenommen werden. Kommen die Frauen außerhalb der Öffnungszeiten, müssen sie in weiter entfernte Krankenhäuser fahren. In Berlin, wo die Zahl der Geburten in den letzten Jahren drastisch gestiegen sind, kommen regelmäßig drei, vier, sogar fünf Geburten gleichzeitig auf eine Hebamme.
Wir Hebammen fordern deswegen die 1:1-Betreuung bei Geburten. Aber nicht, damit wir in ruhigen Nächten in der Ecke stricken und den Frauen Händchen halten können: Gebärende brauchen nachweislich weniger Schmerzmittel, wenn eine Fachkraft im selben Raum ist. Wenn ich jemanden kontinuierlich betreue, erkenne ich auch Regelwidrigkeiten viel früher.
Was, wenn ich bei all dem Hin- und Hergerenne vielleicht mal etwas wichtiges übersehe? Jeder kleinste Fehler kann so schwerwiegend sein.
Doch obwohl die Geburtshilfe jeden Menschen etwas angeht, hat sie kaum eine politische Lobby. Immer wieder gibt es Petitionen, und deren Zustimmung durch die Bevölkerung ist eigentlich überwältigend, aber mit Ausnahme der Grünen nimmt sich die Politik des Themas nicht an. Und die Krankenkassen kürzen immer mehr Hebammenleistungen.
»Nein, Frau S., ich bleibe jetzt da, Sie haben es ja fast geschafft.« redete ich ihr zu und tupfte ihr den Schweiß von der Stirn. »Gleich ist er ja da!« – »Es wird ein Mädchen, Herrgott«, brüllte sie. »Die Annaaaaaaaa«. Eine Wehe übermannte sie, ich rief noch mal nach der Ärztin, lange würde das hier nicht mehr dauern.
Die kleine Anna wollte später wohl Leistungsschwimmerin werden, jedenfalls hat sie breite Schultern, die sich in Mamas Gesäß verhakt hatten. In diesem Moment piepste das Diensthandy: RW 350 Geburt SSW 37. Ungläubig starrte ich aufs Display. Ein Rettungswagen würde kommen – und noch eine werdende Mutter bringen! Das gibt's doch nicht! Ich, wir alle, steckten noch mitten in der Geburt des festgeklemmten Babys Nummer 6.
Eine Welle Adrenalin flutete meinen Körper. Aber ich zwang mich, ruhig zu bleiben. »Wenn das hier geschafft ist, brauche ich noch eine Spezi«, ächzte ich kopfübergebeugt unter dem Bein der Frau. Spezi ist in solchen Nächten mein Überlebenselixir – den Platz unter der Ausgießdüse des Kaffeeautomaten überlasse ich den übermüdeten Wartevätern.
Anna, ihres Zeichens Freistil-Olympiasiegerin des Jahres 2036, tat uns dann doch den Gefallen, sich aus dem Körper ihrer Mutter zu winden. Flutsch, quäk, quäk, ja hallo junge Dame! Alles dran. Ab auf Mamas Bauch. Meine Hebammenkollegin, die inzwischen aus der 2 jetzt zu uns gestoßen war, übernahm die weitere Betreuung, und ich sprintete mit der Ärztin zur Notaufnahme, wo jeden Moment der Rettungswagen eintreffen sollte.
Auf meinem Display stand inzwischen »Präklinische Geburt« – diesen Code hatte ich noch nie empfangen. Mein Hirn ratterte. Ist das Kind etwa im Rettungswagen zur Welt gekommen? Da fuhr auch schon der Notarzt vor, darin ein strahlender Sanitäter und ein faltigen, perfektes Würmchen in den Armen seiner erschöpften Mutter.
Es war inzwischen hell geworden.
An diesem Morgen saßen wir nach Schichtende noch zusammen, aufgedreht und erschöpft zugleich. Während wir den Papierkram erledigten, gingen wir wieder und wieder die Abfolge durch, diese unglaubliche, irre, dramatische Nacht. Wie früher, als man durchgefeiert hatte, bis die Wolken wieder lila waren, und man überlegt hatte: Wann war ich noch gleich auf Schnaps umgestiegen? Und wann hatte ich mit diesem Typen geknutscht?
Stolz herrschte vor und heillose Euphorie. Wir glaubten für einen kurzen Moment, wir könnten auch Kinder auf dem Mond zur Welt bringen. Oder in einer Ozeanhöhle. Und andererseits: Fassungslosigkeit. Wie schlimm, wie gefährlich, dass wir unter diesen Bedingungen arbeiten mussten! Dabei hatten uns die Frauen ja den »Gefallen« getan, mehr oder weniger nacheinander zu gebären. Gefallen hatte es ihnen (und uns) so sicher nicht. Und was, wenn es morgen in der Nachtschicht wieder so wird? Halten wir das durch?
Die zwei Liter Spezi meldeten sich. Zum ersten Mal seit zehn Stunden ging ich auf die Toilette. Dann stolperte ich nach Hause. In der S-Bahn zwischen all den bürofertigen Menschen konnte ich kaum die Augen offen halten. Eine Kollegin erzählte mal, dass sie nach Nachtschichten so müde sei, dass sie schon bevor sie zur Arbeit gehe, die Bettdecke zurückschlage, so dass sie frühmorgens nur noch hineinkriechen muss. Zuhause angekommen steuerte ich per Autopilot ins Bett. Ich schlief ein mit dem Gedanken, dass soeben sieben kleine Menschen auf der Erde gelandet waren und dass es ihnen gut ging. Zum Glück.