Ich gebe zu, abgesehen von vergangener Woche habe ich bislang wenig von Kaiserschnitten erzählt. Qua Amt ist meine Haltung dazu natürlich komplex. Es ist ein bisschen wie einen Schreiner nach seiner Meinung zu Ikea-Möbeln zu fragen, mit dem Tenor: »Aber die sind doch schon auch gut, oder?«. Ja, na klar, vor allem sind sie oft lebensrettend und notwendig (die Kaiserschnitte, nicht die Möbel)!
Tatsächlich machen Kaiserschnitte einen großen Teil meiner Arbeit aus und mein Standpunkt lässt sich ganz gut mit »Keine Intervention ohne Grund« zusammenfassen. In Deutschland kommt etwa jedes dritte Kind per Schnittgeburt, im Fachjargon Sectio, zur Welt, und weil es die sogenannte Hebammen-Hinzuziehungspflicht gibt, also die Vorschrift, dass bei jeder Geburt, ob spontan oder Sectio, eine Hebamme anwesend sein muss, stehe ich an manchen Tagen mehr im OP als im Kreißsaal.
Immer wieder werde ich gefragt, ob es an einem Datum wie dem heutigen 12.12. mehr Kaiserschnitte gibt. Ja und nein. Nur auf Wunsch, ohne jegliche medizinische Indikation (es gibt absolute Faktoren wie Querlage und relative wie vorangegangener Kaiserschnitt) werden in dem Krankenhaus, in dem ich arbeite, keine Kaiserschnitte vorgenommen. Mein Chef ist sehr prinzipientreu und hat das so entschieden. Das mag hart klingen, aber von den 2000 Geburten pro Jahr ist es ein winziger Anteil an Patientinnen, die sich aus diesem Grund dann für ein anderes Krankenhaus entscheiden. Kleinere Kliniken, die auf die Patientenzahlen angewiesen sind, handhaben das oft anders. Sie werben zum Teil gezielt um Schwangere, auch weil ein Wunsch-Kaiserschnitt verhältnismäßig leicht verdientes Geld für eine Klinik ist.
Obwohl wir also keine Wunsch-Kaiserschnitte machen, ist der OP-Plan an Tagen wie dem 11.11. oder dem 12.12. etwas voller als sonst: Denn wenn ein Kaiserschnitt medizinisch indiziert ist, kommen wir den Paaren gern entgegen mit dem Datum – sofern es sich machen lässt.
Manchmal gibt es aber auch ganz andere Gründe für ein bevorzugtes Datum: eine Dienstreise zum Beispiel. In der Klinik, in der ich früher gearbeitet habe, wird bis heute die Geschichte eines Paars erzählt, bei dem die Sectio der Frau für einen Montagmorgen um acht Uhr angesetzt war. Dann ereignete sich ein geburtshilflicher Notfall: Bei einer anderen Frau waren nach der Geburt schwere Blutungen aufgetreten, sie musste notoperiert werden. Der OP war belegt, alle Ärzte im Einsatz. Zusammen mit der zuständigen Ärztin erklärte ich dem anderen Paar, dass sich ihr Termin um unbestimmte Zeit nach hinten schieben würde. Der Partner der Frau sah uns entgeistert an. »Aber wir haben den Termin extra so gelegt – ich fliege mittags nach Shanghai und will mein Kind noch sehen«, echauffierte er sich. »Verständlich! Daher sollten Sie beim nächsten Mal das Zeitfenster vielleicht etwas größer wählen«, hat meine Kollegin ihm daraufhin ziemlich entschieden gesagt.
Ich werde auch oft gefragt, wie es ist, wenn im Verlauf einer spontanen Geburt ein Kaiserschnitt notwendig wird. Man spricht dann von »sekundärer Sectio« (nicht zu verwechseln mit einem Notkaiserschnitt – das ist wieder etwas anderes).
Mir fällt dann immer eine Geburt ein, die ich zu Beginn meines Berufslebens erlebt habe. Frau H. hatte eine Beckenendlage, das Kind lag also mit dem Po nach unten. Schon rund zwei Wochen vor dem errechneten Termin hatten wir die »äußere Wendung« probiert, das ist ein Move, mit dem man durch geschicktes Drücken außen am Bauch das Baby zu einem Purzelbaum zu bringen versucht. Sieht heftig aus, aber man merkt sehr schnell, ob sich das Kind drehen will. Es wird zudem intensiv medizinisch überwacht. Äußere Wendung, Beckenendlagegeburten, vielleicht noch spontane Zwillingsgeburten – das sind für mich die Königsdisziplinen der Geburtshilfe, und ich bin froh, in einem Krankenhaus zu arbeiten, wo all diese Dinge praktiziert werden.
Frau H.s Kind hatte trotz Druck von außen keine Lust auf Sport und Bewegung. In vielen Krankenhäusern hätte man ihr nun dringend einen Kaiserschnitt nahegelegt. Aber weil medizinisch nichts gegen eine Steißlagengeburt sprach, hielt sie an ihrem Wunsch fest, spontan zu gebären.
Zehn Tage später begann die Geburt. Frau H. kniete vor mir, ihre schwarzen Haare hingen ihr ins Gesicht, während ihre Wehen immer heftiger wurden. Über Stunden turnten wir durch den Raum, sitzend auf dem Ball, im Vierfüßlerstand, auf der Matte, beckenkreisend an der Sprossenwand.
Irgendwann war der Muttermund zehn Zentimeter geöffnet, jetzt sollte das Kind Stück für Stück durch das Becken rutschen, aber: nichts geschah. Ein Wettlauf gegen die Zeit begann. Die Wehen wurden eher schwächer als stärker. Bei einer Geburt aus Schädellage hätte man dem Kind nun mit einer Saugglocke oder einer Geburtszange auf die Welt helfen können – aber diese Optionen fielen weg. Mein Kasack war schweißnass – ich wollte ihr doch so gern helfen.
»Warum kommt sie nicht tiefer?«, jammerte Frau H. Ihr Freund massierte ihr die Schultern. »Schatz, vielleicht ist ein Kaiserschnitt jetzt wirklich besser...« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Eine sekundäre Sectio ist für Frauen oft frustrierend, viele haben dann das Gefühl, sich so unfassbar angestrengt zu haben: »für nichts«, wie sie glauben.
Sie sah mich tieftraurig an, ich musste gar nichts sagen, mein Blick genügte: Es geht nicht anders. Auch wenn ich es mir für sie anders gewünscht hatte, konnten eine wir spontane Geburt nicht länger verantworten.
Diese Enttäuschung, dieses Gefühl einer Niederlage ist einem Unbeteiligten wahrscheinlich schwer zu vermitteln. Dann eben per Kaiserschnitt, so what? Hauptsache, Mutter und Kind sind am Ende wohlauf, denken viele und haben ja auch Recht. Aber der Wunsch einer Frau, natürlich gebären zu wollen, kann sehr, sehr mächtig sein. Er kann sie neun Monate, vielleicht ein ganzes Leben lang begleitet haben. Nicht allen Frauen fällt es leicht, sich von dieser Vorstellung zu verabschieden. Vor allem, wenn die Hormone im Körper gerade eine wilde Party feiern.
Auch als Hebamme versetzt es mir immer wieder einen Stich, wenn eine sekundäre Sectio notwendig wird. Der Verdacht von Unzulänglichkeit keimt dann auch in mir. Ich bin sicher, jeder Schreiner, der – aus welchen Gründen auch immer – zu Ikea fährt, und sei es nur wegen der Teelichter, kennt das Gefühl.