Frühling ist die grausamste Jahreszeit

Gerade, wenn es draußen schön ist, wird es für Depressive besonders unangenehm. Unser Autor beschreibt, warum das so ist und welche Art von gut gemeinten Ratschlägen man bitte unterlassen sollte.

Tulpen in der Frühlingssonne - für viele Depressive ist der Frühling schwer zu ertragen.

Foto: dpa

Im Allgemeinen gilt der November als der schlimmste Monat für Depressive, Herbst und Winter gelten als die schwierigste Saison. »Die dunkle Jahreszeit«, heißt es dann, und auch Menschen, die nicht unter Depressionen leiden, meinen, plötzlich verstehen zu können, wie es den Dauerdeprimierten geht: So, als wenn Regentropfen die Scheibe runterlaufen und alles ist grau und kalt, man will gar nicht vor die Tür gehen!

Tatsächlich aber ist das Frühjahr die schlimmste Zeit für alle, die an Depressionen leiden, egal, ob leicht oder schwer oder mittel. Im Herbst können wir uns wenigstens verstecken, denn dafür gibt es zu jener Zeit eine gesellschaftliche Konvention, nämlich die des Drinnenbleibens und es sich gemütlich Machens. Oder, wie es T.S. Eliot in seinem Versepos »Das wüste Land« schrieb: »April ist der grausamste Monat, treibt/Flieder aus dem toten Land, mischt/Erinnerung mit Lust, rührt/Spröde Wurzeln mit Frühlingsregen./Der Winter hat uns warm gehalten, hüllte/ Erde in vergesslichen Schnee ...«

Ja, April ist der grausamste Monat, und dann Mai, und Juni, denn der Winter hat uns warm gehalten, und nun ist es nicht nur diese beschriebene Mischung aus Erinnerung und Lust, sondern es sind auch die Aufforderungen des Lebens, der Freunde und Freundinnen, der Familie, der Natur, doch rauszugehen, mitzukommen in die Welt.

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Im Herbstwinter kann man sich als Depressiver verstecken, und wenn man sagt: »Es tut mir Leid, ich konnte einfach nicht, ich wollte kommen, aber ich hab’s nicht aus dem Haus geschafft«, dann sagen die anderen: »Ja, verstehe ich, bei dem Wetter bleibe ich auch lieber drin.« Der depressive Lifestyle, nämlich mit Wolldecke vor sich hinzuseufzen, wird dann für einige Wochen Mainstream, und man kann darin untertauchen.

Nie merkt man deutlicher, wie starr und eingefroren die eigenen Gesichtszüge sind, wie unleicht und unbeweglich und insgesamt einfach nicht vorzeigbar die Seele

Wie aber soll ich jetzt beschreiben, wenn ich, nur ein Beispiel, bei allerbestem Wetter mit jemandem für ein kurzes, informelles Gespräch in einem Biergarten verabredet bin, und im zweiten oder dritten Anlauf schaffe ich es immerhin bis ins Auto (das Fahrrad ist kein so gutes Versteck, im Bus sind zu viele Menschen), aber dann sitze ich auf dem Parkplatz einfach nur da, den Biergarten im Blick, die Linden wiegen ihre Köpfe darüber, das Nachmittagslicht spielt auf den Gläsern und Glatzen, die Menschen lächeln einander zu mit ihren Sonnenbrillen, und es ist die perfekte Welt, ich habe sogar großen Hunger und eine Art Bierdurst, aber: Es geht nun einmal nicht. Und ich kann es nicht erklären. Und nicht zuletzt: Ich möchte es auch nicht erklären.

Das ist im Frühling aber denen, die keine Depressionen kennen, oft egal, oder sie verstehen es einfach nicht. Für Depressive ist der Gutwetterausbruch die Jahreszeit, in der wir gesagt bekommen: »Geh doch mal raus, das würde dir gut tun. – Überwinde dich einfach, guck mal, du hast so viel geschafft, im Vergleich dazu ist das doch ein Klacks. – Alle freuen sich, wenn du doch noch kommst! – Ganz ehrlich, du brauchst doch die Sonne, ich hab gelesen, Vitamin-D-Mangel ist eine der Hauptursachen von Depressionen, ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber vielleicht hockst du einfach auch zu viel drinnen ...«

Die Liste lässt sich endlos fortsetzen. Aber mal abgesehen davon, dass Depressive selbst am meisten über Depressionen wissen, und viele sowieso schon Vitamin D in hohen Dosen schlucken: Können Nicht-Depressive sich vorstellen, wie schlimm es erst ist, wenn man sich wirklich durchgerungen hat?

Es ist eine Sache, zu Hause im Bett zu liegen oder auf dem Sofa, oder im Büro einfach nur auf die Tischplatte zu starren oder ins Twitter. Das ist nicht gut, es fühlt sich falsch an, aber dadurch eben auch wieder stimmig, man stellt dadurch als Depressiver wenigstens so eine Art Kongruenz der Innen- und der Außenwelt her, für Momente. Wenn man aber dem unerbittlichen Ruf nach draußen folgt, dann trägt man seine düstere Innenwelt ins Helle, in die Vorsommerapokalypse, und nie merkt man deutlicher als im gleißenden Sonnenlicht oder der sanften Abenddämmerung, wie starr und eingefroren die eigenen Gesichtszüge sind, wie unleicht und unbeweglich und insgesamt einfach nicht vorzeigbar die Seele.

Klar, Licht hilft gegen Depressionen, und Dunkelheit verstärkt sie. Aber das sind physikalisch-chemikalische Tatsachen, die sich nicht beliebig skalieren lassen: Man kann eben gerade nicht hochrechnen, je mehr Licht, desto weniger Depression, je mehr draußen, desto happy.

Also lasst die Depressiven gerade bei gutem Wetter und langen Tagen ein bisschen in Ruhe. Macht ihnen Angebote, aber keine Vorschläge. Ladet sie ein, aber seid nicht beleidigt, wenn sie mal nicht oder nicht mal antworten. Macht Pläne mit ihnen, aber keine, die ohne ihre Mitwirkung zusammenbrechen. Und danke an alle, die es sowieso schon so machen. Das sind ja gar nicht wenige. Viel Vergnügen mit dem Frühling.

Wenn Sie den Verdacht haben an Depression zu leiden, ist das Gespräch mit einem Arzt oder Psychotherapeuten unverzichtbar. In Notfällen wenden Sie sich bitte an die nächste psychiatrische Klinik oder einen Krisendienst (Adressen finden Sie zum Beispiel hier und hier – oder direkt an den Notarzt unter der Telefonnummer 112).