Warten, bis der Arzt kommt

Wer in Deutschland psychisch krank wird, muss besonders stark sein: Bis zur Therapie vergehen oft Monate, Patienten werden sich selbst überlassen. Warum ändert sich nichts?

Das Gesundheitssystem lässt Menschen allein, die sich ohnehin oft einsam fühlen.

Die Sprechzeit ist täglich zwischen 8 und 8.05 Uhr. Nur dann. Tanja Salkowski, 36 Jahre alt, hat sich für den Anruf an den Esstisch gesetzt. Es ist ein runder Tisch mit vier Stühlen, durch das Fenster scheint die Sonne darauf. Sie hält das Handy in der Hand, starrt es an. Minutenlang. Sie weiß nicht, ihr wievielter Versuch bei einem Psychotherapeuten es sein wird – ihr vierzigster? Fünfzigster? Was sie weiß, ist, was sie hören wird: die Stimme eines Anrufbeantworters. Wie immer. Sie wird eine Nachricht hinterlassen, wird sagen, dass sie Depressionen hat und einen Therapieplatz braucht. Beim ersten Mal hat sie noch gestottert und geweint. Inzwischen spricht sie diese Sätze so routiniert aus, als würde sie ein Brot kaufen. Es wird sie dennoch alle Kraft kosten. Und Tanja Salkowski weiß: Einen freien Platz gibt es sowieso nicht.

Manchmal bleibt sie dann so sitzen. Stundenlang, mit dem Handy in der Hand. Vor dem Fenster beginnt ein neuer Tag. Doch Tanja Salkowski wird die Rollos herunterlassen, sich auf ihre Couch legen und die Wohnung nicht verlassen, wird niemanden sehen, mit niemandem sprechen. Nur fernsehen, Telenovelas und Nachrichtensendungen in immer gleicher Reihenfolge. Sie kann nicht anders. Antriebslosigkeit, Traurigkeit – ihre ständigen Begleiter. Körperliche Beschwerden kommen hinzu, Schlaflosigkeit, Magenkrämpfe. An einem schlechten Tag nimmt sie nicht einmal Farben wahr.

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»Es gibt einfach keine Hilfe. Das ist so ungerecht! Wenn einer sich ein Bein gebrochen hat, wird er doch auch behandelt. Warum der und nicht ich? Ich habe auch ein Recht darauf. Dieses Warten, nicht Tage, nicht Wochen, sondern Monate – das ist Körperverletzung. Ein Spiel mit dem Leben des Patienten. Ich habe so eine Wut auf dieses System.«

Eigentlich zählt die medizinische Versorgung in Deutschland zu den besten der Welt. Es gibt etwa 2000 Krankenhäuser mit insgesamt mehr als 500 000 Betten und mehr niedergelassene Ärzte als jemals zuvor. Wer medizinische Hilfe braucht, bekommt sie fast immer – wenn es sich um ein körperliches Leiden handelt. Für seelische Erkrankungen gilt das nicht. Auf ein Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten warten Patienten durchschnittlich drei Monate, hat die Bundes-psychotherapeutenkammer errechnet. In ländlichen Regionen sind es vier Monate, in Brandenburg sogar fünf. Und bei diesem Termin handelt es sich nur um eine Bestandsaufnahme – nicht um den Therapiebeginn. Bis es dazu kommt, vergehen im Durchschnitt weitere drei Monate. Diese Zahlen wurden im Frühjahr 2014 durch eine Umfrage der Zeit bestätigt. Und der Faktencheck Gesundheit der Bertelsmann-Stiftung, für den Daten von sechs Millionen Krankenversicherten ausgewertet wurden, zeigt sogar, dass rund die Hälfte aller Patienten mit einer depressiven Erkrankung überhaupt nicht ausreichend behandelt wird.

Sie ist doch keine Bekloppte, denkt Tanja Salkowski 2008, als sie erstmals die Diagnose »mittelschwere Depression« erhält. Sicher ist alles nur eine Phase, in ihrem Job fühlt sie sich als Mobbing-Opfer, vielleicht muss sie einfach kündigen, mal raus. Zu der Therapeutin, die die Diagnose stellt, aber nur Privatpatienten aufnimmt, geht sie nie wieder. Psychisch krank? Sie, die Moderatorin und Journalistin, mit ihrem blonden Haar und den strahlenden Augen? Davon erzählt sie niemandem. Mehrfach wechselt sie den Wohnort, arbeitet sogar einige Monate auf einem Kreuzfahrtschiff. Aber die Depressionen gehen nicht weg. Tanja Salkowski weint jetzt viel, oft ganz plötzlich. Sie klammert sich an eine neue Beziehung, zieht zu ihrem Freund nach Stralsund. Und wird schwanger. Ihr Freund reagiert zurückhaltend. Vier Wochen später erwacht Tanja Salkowski inmitten von Blut. Ein Frühabort. Ihr Freund scheint erleichtert, sie weint nächtelang. Um schlafen zu können, trinkt sie. Immer den gleichen Wein, einen Pinot Grigio für vier Euro fünfzig. Sprechen können Tanja Salkowski und ihr Freund nicht. Am Valentinstag sagt er ihr, dass er keine Kraft mehr für die Beziehung hat. Tanja Salkowski ist starr vor Schreck, unfähig, sich zu bewegen. Jetzt bin ich ganz allein auf dieser Welt, denkt sie. Dann schleppt sie sich auf allen vieren ins Bad und breitet Schlaftabletten vor sich aus. Als sie die ersten geschluckt hat, piepst ihr Handy. Eine SMS von einem Freund. Es ist der rettende Moment. Am Ende legt Tanja Salkowski die Tabletten beiseite und beschließt, sich nun doch therapeutische Hilfe zu holen. Und zwar schnell.

»Das Wartezimmer war voll. Die Leute standen bis auf die Straße hinaus. Die Patienten wurden im Akkord abgefertigt, jeder hatte höchstens zwei Minuten Zeit. Als ich dran war, hat der Psychologe mir eine Liste mit dreißig Therapeuten auf den Tisch geknallt. Die sollte ich abtelefonieren. Aber ich konnte mich ja kaum bewegen, wie sollte ich da jemanden anrufen, noch dazu jemand Fremden? Ich habe mich dann dazu gezwungen, mit aller Kraft. Wenn es ging, habe ich auch Mails geschrieben. Wie sollte ich sonst aus dem Strudel rauskommen? Nach jedem Anruf musste ich mich einen ganzen Tag ausruhen. Gebracht hat es nichts. Ein einziger hat mich zurückgerufen. Ein Jahr Wartezeit, hat er gesagt.«

Nur die Hälfte aller Psychotherapeuten führt überhaupt noch eine Warteliste. Als die Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen herausfinden will, warum es nicht mehr sind, erhält sie Antworten wie: »Eine Warteliste habe ich vor Jahren aufgegeben, da ich den Patienten hätte sagen müssen: Rufen Sie mich in zwei, drei Jahren wieder an.« Wird in einer solchen Praxis ein Therapieplatz frei, vergeben ihn die Therapeuten jetzt nach dem Glücksshow-Prinzip: Der nächste Anrufer bekommt ihn – egal wie lange er gewartet hat. Eine Sprechstundenhilfe haben die wenigsten.

Warum ist es in Deutschland so schwierig, einen Therapieplatz zu bekommen? In München-Schwabing etwa gibt es in einem Umkreis von 500 Metern an die vierzig Psychotherapeuten. Man braucht nur die Kaiserstraße (zehn) entlangzu-gehen, in die Wilhelmstraße (drei) abzubiegen, dann erreicht man über die Herzogstraße (sechs) die Clemensstraße (acht). Über die Bismarckstraße (drei), die Viktoriastraße (drei) oder die Römerstraße (sechs) zurück, und man ist wieder am Kaiserplatz (einer). Es gibt klassische Psychoanalyse, Verhaltens- und Tiefenpsychologie, psychiatrische Praxen, psychosomatische Medizin, es gibt Ehe-, Familien- und Gruppentherapien, Körpertherapie, Heil- und Energiearbeit und Burnout-Prävention, alles in 15 Minuten erreichbar. 22 201 kassenzugelassene Psychotherapeuten arbeiten derzeit in Deutschland. Das sei »ausreichend«, sagt der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen, und wer durch Schwabing läuft, glaubt das sofort. In München kommen auf 100 000 Einwohner 76,9 Psychotherapeuten, mehr als überall sonst in Deutschland. In Hamburg sind es 51,1, in Berlin 61,6 und in Köln 63,3. Und auch für Nachrücker ist gesorgt: Jedes Jahr absolvieren etwa 2000 neue Psychologen erfolgreich die staatliche Therapeutenausbildung. Reicht das denn nicht?

Will man das Problem verstehen, muss man 15 Jahre zurückgehen. 1999 legt der Gemeinsame Bundesausschuss fest, wie viele Psychotherapeuten in Deutschland eine Kassenzulassung erhalten dürfen. Nur bei diesen zugelassenen Therapeuten übernehmen die Krankenversicherungen ohne Weiteres die Kosten für eine Behandlung. Um für diese »Bedarfsplanung« eine Zahl zu ermitteln, wird aber nicht untersucht, wie oft Menschen psychisch krank werden. Es wird gezählt, wie viele Therapiepraxen es zu diesem Zeitpunkt gibt. Dann werden Durchschnittswerte für Städte und Kreise gebildet und zur Obergrenze erklärt. Aus dem Ist-Zustand wird ein Soll-Zustand.

In den vergangenen Jahren aber ist die Zahl derer in die Höhe geschossen, die einen Therapieplatz suchen. 2011 waren fünfzig Prozent mehr Menschen aus psychischen Gründen krankgeschrieben als noch im Jahr 2000. Ob es die Gesellschaft ist, die sich verändert hat, der wachsende Leistungsdruck, der Stress in der modernen Arbeitswelt – das lässt sich nicht sagen. Dank umfangreicher Aufklärung werden psychische Erkrankungen heute auch ernster genommen, mehr Menschen gestehen sich ihr Leid ein. Aber damit steigt der Bedarf an Psychotherapeuten, und längst reicht die Bedarfsplanung von 1999 nicht mehr. 2013 gab es eine kleine Reform, doch nur magere 1300 weitere Zulassungen wurden bewilligt. Immer noch steht eine wachsende Zahl psychisch behandlungsbedürftiger Menschen einer gleichbleibenden Zahl von kassenzugelassenen Therapeuten gegenüber, jenen 22 201.

Und längst nicht alle kassenzugelassenen Therapeuten arbeiten in Vollzeit. Die Bedarfsplanung geht davon aus, dass ein Therapeut etwa sechs bis sieben Patienten pro Tag schafft, das sind dreißig bis 35 in einer Woche. Behandelt ein Therapeut aber nur zwanzig Patienten pro Woche, zum Beispiel um mehr Zeit für seine Familie zu haben, fehlen den Patienten diese Plätze – mehr Zulassungen werden deshalb aber nicht vergeben. Nicht einmal Privatpatienten profitieren von diesem Sys-tem: Zwar könnten sie sich die Praxis theoretisch aussuchen, doch Psychotherapie ist oft nicht in ihrem Leistungskatalog enthalten. Viele müssen dann für ihre Behandlung selbst aufkommen, Kosten: um die hundert Euro pro Stunde.

»Ich bin wirklich nicht bekloppt, das ist eine Krankheit. Und ich bin nicht allein damit.«

Florian Hänke ist 31 und arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in Berlin. Seine Praxis in Friedrichshain: ein typischer Berliner Altbau, mit Holzmöbeln, die bessere Tage gesehen haben, es herrscht unkomplizierte Gemütlichkeit. Am Fenster stehen zwei durchgesessene Ledersessel. Hier sitzt Hänke am liebsten. Braune Locken umrahmen sein Gesicht, er trägt Hemd und Cordsakko und spricht bedächtig. Seine Approbation hat er seit mehr als zwei Jahren. Er hat in Berlin studiert und in den USA, ist Mitglied der Psychotherapeutenkammer Berlin und im Deutschen Psychotherapeutenverband – und er hat keine Kassenzulassung. Er ist überzeugt: Würden mehr Zulassungen vergeben, würde die Wartezeit für Patienten erheblich kürzer.

»Es gibt viele super ausgebildete psychotherapeutische Kollegen, die freie Plätze hätten und kurzfristig Termine anbieten könnten – wenn sie nur dürften! Das System ist zum Kotzen. Will man sich für eine Zulassung bewerben, muss man sich erst bei den Kassenärztlichen Vereinigungen auf eine Warteliste setzen lassen. Gibt dann ein Kollege, der in Rente geht, seinen Platz ab, kann man sich darauf bewerben. Wenn die Voraussetzungen stimmen, wird ein privatrechtlicher Vorvertrag abgeschlossen. Es ist absurd: Diese Zulassungen werden vor dem Gesetz wie Eigentum behandelt. Früher wurden sie einfach weitergegeben. Heute nehmen die Kollegen hier in Berlin, die damals nur eine Verwaltungsgebühr zahlen mussten, von ihren Nachfolgern 60 000 bis 80 000 Euro. Und ich habe auch schon von Zahlen gehört, die darüberliegen.«

Als Tanja Salkowski nach Monaten immer noch keinen ambulanten Therapieplatz bekommt, entscheidet sie sich für einen stationären Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik. Sie weiß: Etwas muss geschehen, ein weiteres Jahr ohne Hilfe schafft sie nicht. Der Antrag ist zehn Seiten lang, doch ihr Hausarzt hilft ihr. Dann erhält sie eine Zusage in einer Klinik in Schwerin. Die Wartezeit: fünf Monate. Einerseits ist Tanja Salkowski froh, dass sich endlich etwas tut. Andererseits: Wie soll sie diese Zeit überstehen? Arbeiten kann sie nicht, sie muss vom Ersparten leben. Vor Medikamenten hat sie Angst. Sie versucht, einen Platz in einer Selbsthilfegruppe zu bekommen. Doch alle drei in Stralsund sind überfüllt.

»Es war die Hölle. Meine ganze Hoffnung lag dann auf der Klinik, ich habe nur noch die Tage runtergezählt. Es war Sommer, Fußballeuropameisterschaft. Das war unerträglich. Von überallher Jubelschreie, Leute machen Gartenpartys. Nur ich allein in der Höhle. Irgendwie habe ich mich dann durch diese fünf Monate gequält. Es sagt einem auch keiner, was man noch machen könnte. Mit zwei, drei Freunden habe ich dann SMS-Zeichen vereinbart, falls wieder Suizidgedanken hochkommen. Telefonieren konnte ich ja nicht. Ich habe Bücher über die Krankheit gelesen und mich in Internetforen schlau gemacht. Das hat mir sehr geholfen. Zu erkennen: Ich bin wirklich nicht bekloppt, das ist eine Krankheit. Und ich bin nicht allein damit.«

Weil es so schwer ist, einen Platz bei einem kassenzugelassenen Therapeuten zu bekommen, gehen immer mehr Patienten in Privatpraxen. Können sie nachweisen, dass sie woanders nicht behandelt werden können, müssen die Krankenversicherungen sogar die Kosten dafür übernehmen – das regelt ein Paragraf im Sozialgesetzbuch: »Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen (…) und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.« Das klingt einfach, aber: Was genau bedeutet »nicht rechtzeitig«? Binnen eines Monats? Eines halben Jahres? Was ist »notwendig«, und wer entscheidet das? Ein Arzt? Die Kasse? Wie viele Absagen von kassenzugelassenen Therapeuten sind nötig, um sich privat behandeln lassen zu dürfen? Drei, fünf, fünfzig? Auf all diese Fragen hat jede Krankenversicherung eigene Antworten. So gibt zum Beispiel die KKH an, sie könne nicht selbst beurteilen, wie dringend ein Fall ist. Die Techniker Krankenkasse vertritt die Ansicht, dass die Wartezeit abhängig vom Krankheitsbild sei, und die AOK will grundsätzlich keine Leistungen von Therapeuten ohne Zulassung übernehmen. Über jeden Patienten wird neu entschieden, eine einheitliche Regel existiert nicht. Und das hat Folgen.

Sommer 2010: In Wangen bei Göppingen wird Marcus Jäck krank. Ständig ist ihm übel, er hat Schlafstörungen und Grippesymptome. Bestimmt Vitaminmangel, denkt er, doch die Medikamente aus der Apotheke helfen nicht. Zu dieser Zeit arbeitet er viel. Er ist 35, ein Energiepaket, liebt seinen Job als Schleifer in einem Metallbetrieb. Doch es gibt Konflikte mit den Kollegen. Gespräche verstummen, wenn er auftaucht. Eines Morgens ist seine Arbeitskleidung mit Öl übergossen. Er spricht mit seinen Vorgesetzten, doch Hilfe bekommt er nicht. Im Winter klappt Marcus Jäck zusammen. Diagnose: Erschöpfungssyndrom mit mittelgradiger depressiver Episode. Er geht in eine psychiatrische Ambulanz. Stationär aufgenommen wird er nicht – weil er keine Suizidgedanken hat. Nach vier Monaten Wartezeit darf er in eine Rehaklinik im Allgäu.

»Nach den sechs Wochen Klinik kam ich heim und dachte: Ich bin gesund. Das hielt zwei Wochen, dann kamen die Symptome zurück. Die Klinik hat mir gesagt: Sie müssen unbedingt ambulante Therapie weitermachen, das war nur der erste Schritt. Aber die helfen einem nicht bei der Suche. Nur eine Liste habe ich bekommen, mit siebzig Therapeuten im Umkreis von dreißig Kilometern. Ich habe alle angerufen. Zehn haben sich bei mir gemeldet. Wartezeit: sechs bis 15 Monate. Ich dachte: Das kann ja wohl nicht sein. Dann habe ich weitergesucht, in Onlinedatenbanken. Und da habe ich tatsächlich eine Therapeutin gefunden. Ich durfte zum Gespräch kommen, und es war gut. Die Vertrauensbasis stimmte. Aber: Sie war eine nicht kassenzugelassene Therapeutin. Ich habe dann bei meiner Versicherung die Kostenerstattung beantragt. Am Telefon hat man mir gesagt: Oh, das machen wir eigentlich nicht. Eine Lüge.«

Fachlich gibt es keinen Unterschied zwischen kassenzugelassenen und nicht kassenzugelassenen Therapeuten. Dennoch sperren sich viele Krankenversicherungen gegen die Kostenübernahme – auch wenn die Wartezeiten damit deutlich reduziert werden könnten. Der Grund: Therapeuten mit Kassenzulassung erhalten ihr Honorar von den kassenärztlichen Vereinigungen, an die die Versicherungen ohnehin Geld zahlen. Geht ein Patient zu einem Therapeuten ohne Zulassung, entstehen der Kasse zusätzliche Kosten. Und das sind nicht wenige: Für Behandlungen bei privaten Therapeuten haben sich die Ausgaben zwischen 2003 und 2012 verfünffacht, von knapp acht Millionen Euro auf mehr als 41 Millionen Euro. Um diese Ausgaben zu senken, versuchen einige Versicherungen, sich vor der Kostenerstattung zu drücken – zum Beispiel durch bürokratische Hürden.

Marcus Jäck wird nach seinem Antrag auf Kostenerstattung plötzlich von einer zugelassenen Therapeutin zurückgerufen. Er hat kein gutes Gefühl bei ihr, will die Behandlung nicht, doch sie will ihn unbedingt auf ihre Warteliste setzen. Später erfährt er: In dem Moment, wo er bei einem Vertragstherapeuten auf der Warteliste steht, muss seine Kasse die Kosten für eine Privatbehandlung nicht übernehmen. Marcus Jäck lehnt ab. Daraufhin will die Versicherung seinen Gesundheitszustand prüfen lassen, sie schaltet den Medizinischen Dienst ein. Auch der besteht auf die Vertragstherapeutin. Und das Krankengeld wird gestrichen. Da schaltet Marcus Jäck einen Rechtsanwalt ein.

»Ich bin mir verarscht vorgekommen, weil ich ja einen Therapieplatz hatte – der aber nicht bezahlt wurde. Mir wurde einfach die notwendige Hilfe verweigert. Bis auf meine Besuche beim Arzt und beim Rechtsanwalt habe ich mich dann komplett zurückgezogen. Ich wollte mit niemandem mehr etwas zu tun haben. Auch meine Ehe ist daran zerbrochen. Mit der Zeit ist dann ein Gefühl der Perspektivlosigkeit eingetreten, das auch Suizidgedanken mit sich brachte. Die waren vorher gar nicht da. Die kamen erst durch die lange Wartezeit. Mir ging es schlimmer als je zuvor.«

»Ohne zusätzliche Kapazitäten kann sich die Situation nicht verbessern.«


In einer anonymen Online-Umfrage der Deutschen Depressionsliga gibt fast ein Drittel der Teilnehmer an, dass sich ihr Gesundheitszustand durch die fehlende Behandlung verschlechtert habe. Ebenfalls ein Drittel erfährt keine professionelle Unterstützung bei der Suche, vor allem ältere Menschen sind überfordert. Immer wieder kommt es vor, dass Patienten so froh sind, überhaupt einen Platz gefunden zu haben, dass sie sich mit für sie weniger geeigneten Behandlungsmethoden zufriedengeben. Dann machen sie eine Verhaltenstherapie, obwohl eine Psychoanalyse angezeigt wäre. Oder sie akzeptieren einen Therapeuten, mit dem die Chemie nicht recht stimmt. Auch wenn Studien zeigen, dass vor allem davon abhängt, ob eine Behandlung Erfolg hat.

Noch immer wird der Ernst psychischer Erkrankungen unterschätzt. Ende 2013 ließ Josef Hecken, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses G-BA, einem wichtigen Gremium im Gesundheitswesen, das auch über die Zahl der Kassenzulassungen entscheidet, wissen: Man brauche nicht für jeden Bürger einen Psychotherapeuten, eine Flasche Bier tue es manchmal auch. Er entschuldigte sich später dafür. Doch seine Äußerungen offenbaren, was viele Menschen in Deutschland über psychisch Kranke denken. Und so gibt es auch keinen Protest. Niemand geht für Depressive, Schizophrene oder Angstpatienten auf die Straße. Viele Kranke werden nicht einmal von Angehörigen oder Freunden unterstützt. Aber in Deutschland sterben jedes Jahr etwa 10 000 Menschen durch Suizid – das sind fast dreimal so viele Menschen, wie 2014 bei Verkehrsunfällen ums Leben gekommen sind. Und bei rund neunzig Prozent davon, so eine kanadische Studie, die weltweit Vergleichsdaten herangezogen hat, ist eine psychische Krankheit der Grund.

Oliver Schuhmann ist einer von ihnen. Oliver Schuhmann heißt eigentlich anders, auf Wunsch seiner Familie soll hier weder sein richtiger Name noch sein Wohnort stehen. Wie Tanja Salkowski und Marcus Jäck litt auch er unter Depressionen, doch weil er keinen Therapieplatz fand, begann er zu trinken. Als er endlich in eine psychosomatische Rehaklinik durfte, war er längst alkoholabhängig. Die Sucht zerrte an ihm: Heimlich schmuggelte er Flaschen aufs Gelände. Wenn keiner hinsah, trank er sie aus. Als schließlich sein Entlassungstermin anstand, waren seine Blutwerte schlechter als bei seiner Aufnahme. Trotzdem schickte ihn die Klinik nach Hause; einen ambulanten Therapieplatz zur Nachsorge erhielt er nicht.
Oliver Schuhmann versuchte durchzuhalten. Von seinem Hausarzt bekam er eine Liste mit Therapeuten, die er abtelefonierte. Keiner hatte Zeit. Alle seine Bemühungen um einen Platz scheiterten. Freunden schrieb er, wie sehr ihm die psychologische Hilfe fehlte. Er trank immer mehr Alkohol, schloss sich in seinem Haus ein. Für einen Kampf mit den Behörden hatte er, der eher zurückhaltend war und sich lieber im Hintergrund hielt, nicht die Kraft – und schließlich auch nicht mehr den Mut. Er gab auf. Im Herbst 2013, ein Jahr nachdem er aus der Klinik entlassen worden war, wurde er tot in seiner Wohnung gefunden. Leberversagen, notierte der Arzt in seiner Akte. Ein paar Tage später wäre Oliver Schuhmann dreißig Jahre alt geworden.

Die Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt, die Wartezeiten zu verkürzen – nur wie genau, ist bislang nicht klar. Diskutiert werden offene Sprechstunden, damit Patienten wenigstens eine erste Anlaufstelle haben. Doch wie eine Weitervermittlung organisiert werden könnte, weiß niemand. Mehr Zulassungen sind nicht geplant. Im Gegenteil, 7400 psychotherapeutische Praxen sollen geschlossen werden. Auch der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankversicherungen sieht keinen Bedarf für neue Zulassungen. Die Vertragstherapeuten sollen stattdessen effizienter arbeiten. Um die Wartezeiten zu reduzieren, schlägt der GKV-Spitzenverband in einem Positionspapier eine Kürzung der Behandlungszeiten vor. Fünfzig Stunden sollen die Obergrenze sein. Und: Nach den ersten fünfzehn Stunden soll eine sechswöchige Pause stattfinden, eine »Reflexionsphase«. In dieser Zeit soll sich der Patient vermutlich fragen, ob er eine weitere Behandlung wirklich braucht. »Eine therapeutische Katastrophe« nennt das die Bundespsychotherapeutenkammer. Dann bestehe die Gefahr, dass Krankheitssymptome zurückkehren, sich sogar verschlimmern. Schon heute dauerten zwei Drittel der ambulanten Therapien nicht länger als 25 Stunden. »Wir brauchen endlich eine Korrektur der Bedarfsplanung«, sagt ihr Präsident Rainer Richter. »Ohne zusätzliche Kapazitäten kann sich die Situation nicht verbessern.« Selbst der Bundesrat fordert inzwischen eine Überprüfung.

Marcus Jäck schreibt schließlich an eine regionale Tageszeitung – und nachdem der Artikel veröffentlicht ist, bekommt er seinen Therapieplatz. Seit vergangenem Jahr geht es ihm besser, er braucht keine Medikamente mehr. Jetzt setzt er sich für die ein, die nicht die Kraft für einen solchen Kampf haben. Als Mobbing-Berater hält er Vorträge in Betrieben und in Schulen. Seine Krankenkasse hat er wegen Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung verklagt. Ohne Erfolg. Auch der Psychotherapeut Florian Hänke will nicht mehr warten müssen, darauf, dass die Politik irgendwann etwas verändert. Er hat mit Kollegen in Berlin einen Kostenerstatter-Verbund gegründet. Sie wollen mit Kammern, Berufsverbänden und Krankenkassen über eine Verbesserung der Situation sprechen. Momentan behandelt er zwischen 25 und dreißig Patienten pro Woche. Nur zwei von ihnen sind privat versichert. Bei allen anderen wurde eine Kostenerstattung beantragt. Im Herbst 2014 gibt Hänke die Hoffnung auf einen Kassensitz in Berlin auf. Er wird im Frühjahr nach Brandenburg ziehen. Dort kann er eine Praxis übernehmen. In keinem Bundesland ist die Wartezeit länger als in Brandenburg.

Tanja Salkowski hat die Klinik in Schwerin gutgetan, sie wird im Oktober 2012 entlassen. Doch wie bei Marcus Jäck und Oliver Schuhmann findet keine Weiterbehandlung statt. Wieder ist sie allein, in der Wohnung, mit den Erinnerungen an das, was dort passiert ist. Tanja Salkowski kämpft. Sie zieht weg aus Stralsund, fängt in Lübeck ein neues Leben an. Sie beginnt, in Teilzeit wieder als Journalistin zu arbeiten. Sie ruft Deutschlands erste Radiosendung zum Thema Depression ins Leben, die ist einmal im Monat im Offenen Kanal Lübeck zu hören. Ihre Erfahrungen beschreibt Tanja Salkowski in einem Buch: Sonnengrau – so heißt auch ihre Radiosendung. Sie will, dass psychisch Kranke und ihre Bedürfnisse endlich wahrgenommen werden. Doch einen Therapeuten findet sie auch in Lübeck nicht. Zwei Jahre lang versucht sie es, an ihrem runden Tisch mit den vier Stühlen, nichts klappt. Irgendwann kommen auch bei ihr die Suizidgedanken zurück. Es ist Juli 2014.

Drei Wochen später klingelt ihr Telefon. In einer psychotherapeutischen Praxis ist eine Patientin abgesprungen, Sie kann den freigewordenen Platz haben. Sechs Jahre nach ihrer ersten Diagnose beginnt Tanja Salkowski eine Therapie.

Fotos: Gianni Occhipinti; Illustrationen: Moonassi