Carla ist sehr schön, sie ist immer sehr gut angezogen, ein bisschen hip, ein bisschen schick, sie ist sehr schlank und ihre Haare sehen aus, als gehe sie alle zwei Wochen zum Friseur. Carla hat eine zweijährige Tochter, Maya, auch sie ist sehr schön und immer sehr gut angezogen, genau wie Carlas Mann, der noch dazu einen sehr guten, wichtigen Job hat.
Auch an diesem Dienstagabend geben Carla und ihre Tochter ein perfektes Paar ab, als sie zur Tür der Pizzeria reinkommen. Carlas Mann hat vorhin kurz angerufen und gesagt, es werde heute später im Büro, und wann immer das passiert, zwei, drei Mal die Woche, geht Carla mit ihrer Tochter lieber eine Pizza oder Nudeln essen, als zuhause zu kochen. Sie hat heute selbst sechs Stunden gearbeitet, dann Maya von der Kita abgeholt, belanglose Gespräche mit anderen Müttern auf dem Spielplatz geführt und eine Waschmaschine angeschmissen, das reicht für einen Tag. Carla hat sich gerade an den Tisch gesetzt, da kommt der Kellner schon mit einem Glas Pinot Grigio. Man weiß hier, was Carla braucht, sie lächelt dankbar, nimmt einen kleinen Schluck und lässt sich gegen die weiche Rückenlehne der Bank fallen.
Sie schaut auf das bauchige Glas auf dem Tisch vor sich, auf den Weißwein, dessen Oberfläche Wellen wirft, weil die Tochter mit aller Kraft versucht, mit einem Kuli das Papier ihres Malbuchs zu durchlöchern. Carla sagt: »Es ist mein zweieinhalbtes Glas heute. Eines hatte ich zum Mittagessen, mit dem Geschäftskunden. Und ein halbes, bevor wir eben losgegangen sind, während Maya meine Lippenstifte im Klo versenkte.« Sie hebt ihren Blick nicht vom Glas. »Ich weiß, dass ich ein Problem habe.«
Carla und ihre Tochter heißen in Wahrheit anders, die 36-Jährige will nicht, dass ihr Arbeitgeber durch diesen Text von dem Problem erfährt. Er ist ein guter Arbeitgeber, nach ihrer Elternzeit durfte Carla mit 75 Prozent wieder anfangen, auch wenn sie eigentlich dieselbe Arbeit macht wie vor Mayas Geburt. Aber Carla möchte reden über das Problem. Weil sie weiß, dass sie nicht alleine damit ist. Dass es vielen Frauen ähnlich geht wie ihr. »Ich habe das Gefühl, das Leben will zu viel von uns Frauen. Oder wir von ihm, wie man es nimmt.«
Verschiedene Studien sind in jüngerer Zeit zu dem Ergebnis gekommen, dass immer häufiger auch Frauen alkoholsüchtig sind. Vor etwa zehn Jahren kam auf 3,5 alkoholkranke Männer eine Frau, heute kommt eine Frau auf 2,4 Männer. Jürgen Rehm ist Professor am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der TU Dresden. Er ist einer der führenden Forscher für Alkoholsucht in Deutschland. Vor allem bei jungen Menschen trinken Frauen und Männer heute annähernd gleich viel, sagt Rehm. Gleichzeitig ist der Alkoholkonsum von Kindern und Jugendlichen deutlich zurückgegangen, das belegt der Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung.
Damit sind junge, erwachsene Frauen eine Bevölkerungsgruppe, die besonders stark von Alkoholsucht gefährdet ist. Ausgerechnet jene Menschen, denen heute überdurchschnittlich viele Chancen im Leben zu gesprochen werden, weil sie in der Regel gut ausgebildet, emanzipiert, gesundheits- und körperbewusst sind. Frauen wie Carla.
»Es besteht ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen dem Grad an Emanzipation in einem Land und dem Anteil an Alkohol, den Frauen dort konsumieren.«
Carla nimmt das Glas mit dem Pinot Grigio in die Hand, im selben Moment reißt Maya die Schüssel mit dem Parmesan vom Tisch. Carla macht die Augen zu und atmet einmal ein, bevor sie auf unter die Tischplatte taucht, um Scherben und Käsekrümel aufzusammeln. Als der Kellner kommt, entschuldigt sie sich mehrfach, es ist ihr peinlich. »Du willst es allen recht machen, weil: du hast ja ach so viele Möglichkeiten. Du bist eine Frau, du bist stark, du bist schön, du kannst das. Und dann geht alles schief, weil du dir selbst ein Bein stellst, während du versuchst, in zwei Richtungen gleichzeitig zu rennen«, sagt sie.
Dass Frauen heute »alle Möglichkeiten« haben, die gleichen Ausbildungs- und Jobchancen wie Männer (zumindest auf dem Papier), ist eine gesellschaftliche Errungenschaft. Und es ist gleichzeitig für viele Frauen eine Bürde, über sich die kaum eine zu sprechen traut. Weil Frauen gelernt haben, dass sie die Erwartungen besser nicht enttäuschen sollten, weder die, die von außen an sie herangetragen werden, noch die eigenen. Hat eine Frau Kinder und arbeitet, ist der Druck, alles richtig machen und allen gerecht werden zu wollen, Familie und Arbeitgeber, meist ungleich größer als bei Männern. Jürgen Rehm, der Alkoholsucht-Forscher, sagt: »Es besteht ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen dem Grad an Emanzipation in einem Land und dem Anteil an Alkohol, den Frauen dort konsumieren.«
Wie weit die Emanzipation in einem Land fortgeschritten ist, lässt sich am entsprechenden UN-Index ablesen, der sich aus Variablen wie dem Anteil von Frauen im Arbeitsprozess, in Parlament und Regierung sowie der Gesetzgebung zur Gleichstellung der Frau zusammensetzt. Bislang liegt dieser Index in keinem Land der Welt bei 50 Prozent, in einigen skandinavischen Ländern aber schon fast bei 40 Prozent – und in Ländern wie Indien weit unter 10 Prozent. »Die Angleichung des Alkoholkonsum der Geschlechter spiegelt also zum Teil eine Angleichung von Lebenswelten wider«, sagt Rehm. In den vergangenen Jahren sei zudem gezielte Alkohol-Werbung für Frauen hinzugekommen, Weinmarken, die »Girls night out« heißen oder in pinkfarbenen Flaschen verkauft werden.
Wer mit Freunden oder Kollegen eine gute Zeit haben und den Alltag hinter sich lassen möchte, trinkt. Und je härter er arbeitet, desto mehr darf er sich genehmigen. Rehm sagt: »Alkohol ist in Deutschland ein Kulturgut. Er gehört in Deutschland zum guten Leben dazu, das gilt auch für Frauen, gerade, wenn sie erfolgreich sind.« Während Italien, das Wein- und Genussland, seinen Alkholkonsum über die vergangenen Jahrzehnte um den Faktor 4 und mehr reduziert habe, habe sich in Deutschland kaum etwas getan. Im Gegenteil: Alkohol gilt weiterhin als schick, besondere Weine, Craftbiere oder Gin-Sorten haben die Funktion von Distinktionsmerkmalen übernommen.
»Als Mutter könnte ich mich nicht in der Öffentlichkeit hinsetzen und kiffen. Aber ein paar Gläser Wein sind für alle anderen völlig in Ordnung, da fragt keiner nach. Jeder versteht mich: Musst mal abschalten und entspannen, klar!«, sagt Carla. Dass sie zuhause oft weiter trinkt, bis die Weißweinflasche leer ist und sie ins Bett geht, sieht keiner. Und dass sie ihrem Körper damit möglicherweise bleibenden Schaden zufügt, auch nicht. Denn trotz aller Angleichung von Mann und Frau: Der weibliche Körper funktioniert anders als der männliche, er hat einen höheren Fett- und niedrigeren Wasseranteil. Dadurch werden Frauen nicht nur schneller betrunken, sondern können Alkohol auch nicht so schnell abbauen wie Männer. Das Risiko für Herz- und Gehirnschäden und Brustkrebs steigt.
Carla sagt, sie wisse all das. Eigentlich. Aber im Moment sei der Alkohol ihr einziges Ventil, und sie habe es ja irgendwie noch unter Kontrolle. Der Kellner kommt und fragt, ob sie noch ein Glas Pinot Grigio haben möchte, doch Carla winkt ab, die Tochter muss ins Bett. Sie sammelt Buntstifte und Spielzeugautos ein, verstaut sie in ihrer großen Handtasche und zieht Maya eine Mütze auf: »Bis bald«, sagt sie zum Kellner. Er zwinkert Mutter und Tochter beim Rausgehen zu. Zuhause wird Carla das Kind ins Bett bringen, die Wäsche aufhängen und die Kita-Tasche für den nächsten Tag vorbereiten. Wenn sie sich motivieren kann, wird sie auf dem Wohnzimmerboden noch schnell ein paar Pilatesübungen für einen flachen Bauch machen. Dann wird irgendwann ihr Mann nach Hause kommen, und wenn er fragt, ob die beiden noch ein Glas Wein zusammen trinken, ist ja Feierabend, wird Carla dankbar nicken.