Hat man eine schlechte Nachricht zu überbringen, fällt oft der Satz: Setz dich erst mal hin. In diesem Fall aber muss es heißen: Steh erst mal auf. Denn die schlechte Nachricht ist: Sitzen ist nicht gut für uns. Es gibt Forscher, die sagen: Sitzen bringt uns um. Und zwar nicht im Sinne von: »Boah, ist der Stuhl unbequem, mein Rücken bringt mich um.« Sondern im Sinne von: Katastrophale Auswirkungen auf den Stoffwechsel, drastisch erhöhtes Krankheitsrisiko, verkürzte Lebenserwartung. Und plötzlich klingt banalstes Alltagsverhalten wie selbstzerstörerischer Irrsinn. Willkommen in der Welt der Sitzforschung.
An der Universität Leicester in England sind gerade 18 große Sitz-Studien mit insgesamt fast 800 000 Teilnehmern ausgewertet worden. Demnach haben Menschen, die viel sitzen, ein doppelt so hohes Risiko für Diabetes und Herzkrankheiten, und ein stark erhöhtes Risiko, deutlich vor ihrer statistischen Lebenserwartung zu sterben: Wer täglich mehr als sechs Stunden am Stück sitzt, hat ein um 40 Prozent höheres Risiko, in den nächsten 15 Jahren zu sterben, als Menschen, die weniger als drei Stunden am Tag sitzen. Die Studienleiterin Emma Wilmot sagt, dass der durchschnittliche Erwachsene 50 bis 70 Prozent seiner Zeit im Sitzen verbringt. Und sie hofft: »Wenn wir die Zeit begrenzen, die wir mit Sitzen verbringen, können wir vielleicht das Risiko für Diabetes, Herzleiden und vorzeitigen Tod verringern.« Ach ja, und für alle Fitnessfreaks, die dies mit leicht überlegenem Lächeln zur Kenntnis nehmen, weil sie jeden Tag vor oder nach der Arbeit laufen gehen oder an die Geräte: Das bringt nichts. Sport ist nicht geeignet, die negativen Effekte langen Sitzens auszugleichen. Das Einzige, was gegen langes Sitzen hilft: nicht lange sitzen.
Emma Wilmots Untersuchung gehört zum relativ jungen Wissenschaftszweig der »sedentary behaviour research«, also der »Inaktivitätsforschung«, und viele ihrer Kollegen aus diesem Feld bedienen sich einer noch viel drastischeren Rhetorik. Der Mitverfasser einer australischen Studie nennt Sitzen kurzerhand »eine tödliche Aktivität«, in amerikanischen Wissenschaftsblogs kursiert die Redewendung »Sitzen ist das neue Rauchen«, englische Forscher sprechen von der »Sitzkrankheit«, und das Netzwerk internationaler Inaktivitätsforscher hat sich ein geradezu aufrührerisches Logo für seine Öffentlichkeitsarbeit gegeben: ein brennendes Sofa.
Wie immer, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse mit brachialer Rhetorik einhergehen und dem widersprechen, was wir zu wissen glauben, möchte man gleich sagen: Geht’s noch, was sind denn das für Spinner? Denn, ganz ehrlich: Sitzen fühlt sich erst mal gut an. Dieses von Herzen kommende Seufzen, mit dem wir uns auf einen Stuhl oder in einen Sessel sinken lassen, und das ab Ende dreißig immer tiefer und länger wird – das ist kein resigniertes Seufzen, sondern freudig und erwartungsvoll, wir seufzen nicht als dem Tode Geweihte, sondern vergnügt: endlich angekommen. Endlich sitzen. Unser Instinkt ist, uns zu setzen. Wer im Bus oder im Wartezimmer stehen muss, hat eine Niederlage erlitten. Wenn etwas gut ist und stimmt, dann sagen wir, es sitzt, und wenn einer was geleistet hat, sagen wir anerkennend, er habe Sitzfleisch bewiesen. Und das soll jetzt alles schlecht gewesen sein?
Obwohl man sich mehr bewegt, wird man weniger müde.
Der Arzt und Professor James A. Levine von der Mayo Clinic in Scottsdale, US-Bundesstaat Arizona, ist so was wie der Papst der Anti-Sitz-Bewegung. Es heißt, er würde seit Jahren praktisch nicht mehr sitzen, und wenn, dann fotografieren ihn gleich seine Kollegen, um das Bild zu bestaunen. Levine hat folgende Erklärung dafür, dass Sitzen schlecht für uns ist: »Evolutionär sind wir darauf ausgerichtet zu jagen und zu sammeln, zu säen und zu ernten, also darauf, den ganzen Tag in Bewegung zu sein und Tausende von Kalorien zu verbrennen. Und nicht darauf, wie verrückt eine halbe Stunde auf dem Laufband zu rennen und anschließend 15 Stunden zu sitzen.« Levine fand schon 1999 heraus, dass es für unseren Stoffwechsel (und fürs Abnehmen) am besten ist, sich den ganzen Tag über ein bisschen zu bewegen statt ein paar Mal die Woche viel. Wie viele seiner Kollegen hat er ein gehöriges Sendungsbewusstsein: Sein Traum ist, dass alle Amerikaner eines Tages während der Büroarbeit auf dem Laufband gehen.
Die Sportwissenschaftlerin Birgit Sperlich von der Deutschen Sporthochschule in Köln teilt diese Sichtweise grundsätzlich, gibt aber zu bedenken, dass wir darüber, was im Körper bei Inaktivität passiert, noch sehr viel weniger wissen als über die Physiologie der Bewegung. Im Gegensatz zu den etablierten Aktivitätsempfehlungen gäbe es derzeit noch keine wissenschaftlich zuverlässigen Empfehlungen dafür, wie oft man beispielsweise eine sitzende Tätigkeit für wie lange unterbrechen sollte. Sperlich erklärt, dass sich bei körperlicher Inaktivität wie Sitzen unser Stoffwechsel verlangsamt. »Die Empfehlung, die man geben kann, lautet: Sitzen Sie so wenig wie möglich.« Nicht nur wegen des Stoffwechsels und des erhöhten Sterberisikos, sondern durchaus auch wegen des Wohlbefindens. Sperlich und ihre Kollegen haben hierzu gerade eine Studie gemacht: »Dabei haben wir eine Gruppe acht Stunden im Sitzen arbeiten lassen, und eine andere Gruppe wurde jede Stunde kurz unterbrochen und sollte dann zum Beispiel die Treppe rauf- und runtergehen und dann weiterarbeiten. Anschließend haben wir auch die subjektive körperliche Verfassung abgefragt. Die zweite Gruppe hat sich sehr viel besser und sehr viel wohler gefühlt.« Sie sagt, dass viele von uns trotzdem gewissermaßen im Sitzen leben: »Wenn man den ganzen Tag im Büro sitzt, dann sitzend im Auto nach Hause fährt, sich danach an den Abendbrottisch setzt und schließlich mit dem Partner aufs Sofa – das kann’s nicht sein.«
Nun muss man natürlich anerkennen, dass es genau das eben doch ist, und zwar für einen großen Teil der Menschheit: lauter Leute, die im Sitzen Erstaunliches leisten, mitunter die Welt verbessern und durchaus nicht alle mit Anfang fünfzig von Zivilisationskrankheiten dahinge-rafft werden. Der Normalfall ist der Mensch, der sitzt, und nicht schlecht dabei lebt. Aber wenn man die Warnungen der Wissenschaftler ernst nimmt und den sitzenden Menschen als einen sieht, der auf die Dauer ein ganz schönes Risiko eingeht: Könnte man das mit dem Sitzen überhaupt ändern? Durch die Wohnung laufen oder im Wohnzimmer stehen, statt abends auf dem Sofa zu sitzen? Ja, das ginge, würde aber vom Partner vermutlich als Zeichen einer sich anbahnenden Krise missdeutet werden. Beim Abendbrot, nun, man bräuchte einen Stehtisch, das wäre vielleicht sogar ganz lustig und würde diesem häuslichen Ritual etwas urban Imbissartiges verleihen. Aber die Kinder sind oft zu klein, um sich leicht mit ihnen auf eine Stehtischhöhe zu einigen. Außerdem sitzen die, die sitzen, überwiegend im Büro. Fangen wir da also an: Was geht da?
Buchstäblich einiges. In den USA verbreiten sich die sogenannten »treadmill desks«, also: Schreibtische mit Laufband. Man arbeitet im Gehen, man schreibt und telefoniert, während man in Bewegung ist und Kilometer frisst. Langsam natürlich, aber selbst Anfänger kommen schnell auf drei bis vier Kilometer am Tag. Nutzer berichten, dass gleichzeitiges Kaffeetrinken anfangs eine Herausforderung ist, und dass Bürobesucher anfangs immer erst zehn Minuten über den Laufbandtisch reden statt über das eigentliche Thema. Außerdem muss man bei Telefonaten anfangs sagen: Nicht wundern, dieses Hintergrundbrummen und das Ffft-ffft, das bin ich auf dem Laufband, während wir reden. Nick Loper, Autor des Buches Treadmill Desk Revolution (während dessen Niederschrift er nach eigenen Angaben 110,6 Kilometer gelaufen ist), behauptet, man könnte durch neun Stunden Arbeit am Tag am Laufbandtisch mehr als zwanzig Kilo im Jahr abnehmen. Da die einschlägigen Möbelstücke nicht ganz billig sind, gibt es auf Internetseiten wie ikeahackers.net oder gizmodo.de Tipps von Nutzern, wie man aus Möbeln und Laufbändern entsprechendes Büromobiliar selber bauen kann. Die amerikanische Journalistin Susan Orlean schrieb vor einem halben Jahr in der Zeitschrift New Yorker ein begeistertes Plädoyer für den Laufbandtisch, das mit dem schönen Satz begann: »Ich schreibe dies, während ich auf einem Laufband laufe. Und das größte Problem an einem Laufbandschreibtisch ist eigentlich, dass man ständig verkünden möchte, dass man an einem Laufbandschreibtisch arbeitet.«
Ein kurzer Test im Sportgeschäft mit mitgebrachtem Laptop zeigt: Ja, es würde gehen. Nicht schnell, aber auf 100 Kalorien pro Stunde käme man wohl. Und der Stoffwechsel würde sich freuen. Allerdings bleibt ein seltsames Gefühl von Gimmickartigkeit: Wenn man während des Arbeitens mit Hilfe einer Maschine Bewegung erzeugen muss, um gesund zu bleiben, hat man dann am Ende nicht einfach den falschen Beruf und sollte sein ganzes Leben ändern? Und will man wirklich derart deutlich annoncieren, dass man alle, die da noch sitzen, für fahrlässige Selbsttöter hält? Außerdem hat es was Dekadentes, aus purer Selbstliebe auf dem Band zu arbeiten, während ein großer Teil der Welt aus purem Selbsterhaltungstrieb in irgendwelchen Freihandelszonen am Band arbeiten muss. Und es scheint wie der gerätgewordene Ausdruck unseres größenwahnsinnigen Anspruchs, immer alles haben zu wollen: den vergleichsweise gut bezahlten Bürojob und die vergleichsweise angenehme Bewegung einer idyllischen Briefträgerfantasie.
Klar kann man im Büro häufiger Treppen steigen, rumlaufen, statt von Flur zu Flur zu telefonieren oder zu mailen (auch wenn die direkten Gespräche meist mit »Super, schickst du mir dazu noch mal ’ne Mail?« enden). Aber das sind Minuten aus einem Sechs-, Neun- oder Noch-viel-mehr-Stunden-Tag. Die weniger penetrante und weniger wirksame Variante zum »treadmill desk« ist das gute alte Stehpult. Anekdotische Beweisführung legt nahe, dass es vor etwa zehn, zwölf Jahren eine gewisse Stehpultmode in deutschen Büros gab, dass diese Möbel von Menschen angeschafft wurden, die ihren Rücken entlasten wollten, und dass diese Stehpulte heute mehrheitlich als Ablagefläche genutzt werden. Der Stehpultnutzer musste sich immer schon ein wenig Spott gefallen lassen, »Ah, Geheimrat Goethe beim Abzeichnen der Quartalsabrechnungen!« usw. Das Stehpult ist gewissermaßen das Liegerad unter den Büromöbeln: Man kann sich vorstellen, dass es sich gut anfühlt, aber irgendwie sieht es ungewohnt und daher bekloppt aus, und am Ende benutzt man’s nie. Oder?
Ein erstes Fazit nach etwa sechsmonatigem Selbstversuch am Stehpult: Es ist nicht anstrengend, nach etwa einer Woche stellt man keinen Kaffeebecher mehr auf die schräge Arbeitsfläche, man findet null Nachahmer, das Sitzen wird einem fremd. Eigentlich sollte das Stehpult eine Episode bleiben. Aber die Wahrheit ist: Im Stehen arbeitet es sich schneller, man tritt der Arbeit irgendwie selbstbewusster gegenüber, bereit, sich von der ganzen Schufterei nicht unterkriegen zu lassen; man fühlt sich nicht so gefangen und ausgeliefert wie beim Sitzen. Und obwohl man sich mehr bewegt, wird man weniger müde.
Die Wissenschaftlerin Birgit Sperlich sagt, dass wir den Gipfel der Inaktivität noch nicht erreicht haben: Durch die neuen technischen Möglichkeiten würden wir uns immer mehr Bewegung abnehmen lassen. Wenn es nicht insgesamt bald einen rettenden Richtungswechsel gibt. Zum Beispiel in der Architektur. »Natürlich müssen wir weiter barrierefrei bauen«, sagt sie. »Aber warum gibt es auch in modernen Büro-häusern immer repräsentative Fahrstühle mit der neuesten Technik und dann irgendwo versteckt eine schummerige Fluchttreppe? Wir müssen dagegen angehen, es uns als Gesellschaft immer zu bequem machen zu wollen, immer den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Es ist nicht gut, uns im täglichen Leben jede körperliche Herausforderung zu nehmen.«
Vielleicht wird das der Weg der Zukunft sein: dass der öffentliche Raum ein bisschen unbequemer wird. Die ersten Krankenkassen stellen bereits ihre eigenen Studien zu den Gefahren des Sitzens vor, die Techniker Krankenkasse zum Beispiel auf einer großen Pressekonferenz in Berlin. Die man ironischerweise, wenn einem die Anreise zu beschwerlich war, auch per »Google Hangout« online auf dem Sofa verfolgen konnte. Wahr aber ist: Sobald die Krankenkassen anfangen, mit ihren Präventionsprogrammen gegen das Sitzen anzugehen, steckt so viel Geld und Power dahinter, dass sich unser Bild vom Sitzen vielleicht wirklich verändern wird. Vielleicht wird die nächste Generation Familienfotos und alte Fernsehbilder mit Sitzenden so betrachtet wie wir heute das ewige Gequarze auf allen Feierbildern und in allen alten Talkshows, oder den stetigen Alkoholausschank im Internationalen Frühschoppen.
Kann sein, das ist irgendwann die Zukunft des Sitzens: etwas, das man sich gönnt, was man ganz bewusst tut, mit Genuss. Wenn man tagsüber gestanden hat, wird Sitzen abends zum Luxus, zu einer Köstlichkeit, die man sich als krönenden Tagesabschluss gönnt und nicht als Dauerzustand. Das beste nach einem Tag am Stehpult ist also: Dein Hintern freut sich über jeden Stuhl.