Im Herbst, wenn die Früchte und Beeren des Sommers geerntet sind und die Nächte länger werden, überfällt mich häufig eine gewisse Großzügigkeit, dann kommt mir meine sonst übliche Ungeduld abhanden, und ich denke darüber nach, mit dem Nature Writing zu beginnen.
Die Großstadt ist schön, wenn das Leben pulsiert, wenn die Vögel in den Bäumen vor den Fassaden zwitschern, wenn junge Menschen die Straßen bevölkern, wenn Kinder die Plätze füllen, wenn nachts die Polizei durch die Gegend fährt, weil überall zu viel und zu laut gefeiert wird, wenn die Leute sich allerorten mit Eiscreme bekleckern und gegenseitig mit Wasserbomben bewerfen, wenn Beton und Asphalt vor Wärme glühen und die Industrie im Hafen dampft.
Doch wenn der Herbst seine Schwingen ausbreitet, wird die Großstadt still und für meinen Geschmack etwas zu trist. Ich sehne mich in diesen Zeiten nach liebevollen Details, nach den bunten Farben gefallener Blätter, nach zarten Ästen, die sich in den lavendelgrauen Himmel recken, nach Schilf und trockenen Gräsern im Wind, nach wattiertem Licht. Ich möchte stundenlang auf dem Land umherspazieren, als wäre es mein Land, meine Ländereien gar, wie ein adeliger Geist fühle ich mich dann, bereit, meinen inneren Reichtum zu teilen, aber nur meinen inneren. Ich sinniere mich auf die andere Seite des Flusses, zu Kühen und Pferden und Schafen. An manchen Tagen verschlägt es mir sogar die Sprache, wenn ich über den Herbst nachdenke, und ich halte endlich mal die Klappe und sehe mich selbst schweigend auf einem Schiff stehen, umgeben von unscharfen Konturen und Zwielicht und ziehenden Wolken. Spätestens wenn ich mich dabei ertappe, wie ich auf den Balkon trete und melancholisch der Müllabfuhr oder randalierenden Säufern hinterherwinke, weiß ich, dass meine Kitschseele und ich dringend einen Ausflug aufs Land machen sollten.
Für die Hamburger Bevölkerung ist der Inbegriff von »Landausflug« das Stück Niedersachsen schräg gegenüber der Stadt und auf der anderen Seite der Elbe, insbesondere das idyllische Jork – Fachwerkhäuser hinterm Deich, im Frühling blühen dort die Apfelbäume und im Sommer die Herzen, denn es gibt ein kleines Standesamt, auf dem alle immerzu heiraten wollen. Also ziehe ich meinen Allwettermantel an und schlüpfe in meine neuen, karamellfarbenen Gummistiefel, die ich nur für solche Ausflüge gekauft habe, stelle aber schon im Treppenhaus fest, wie unbequem die Dinger sind, in denen komme ich nicht mal bis zum nächstgelegenen Drogeriemarkt. Das muss ich wohl akzeptieren, und in meiner großzügigen Stimmung tue ich es auch und laufe zurück in den vierten Stock, um die Gummistiefel gegen ein Paar Turnschuhe zu tauschen. Leider besitze ich nur helle, in Pastellfarben leuchtende Turnschuhe. Und lebe in Norddeutschland, wo es im Herbst viel regnet, auch jetzt und auch da drüben in Jork. So weit, mir bereitwillig die Schuhe zu ruinieren, geht meine Großzügigkeit dann doch nicht, und schon wird sie abgelöst von Schwermut.
Schwermut lässt sich in der nächstgelegenen Bar bekämpfen, etwa in der »Walrus Bar« in meiner Straße, die zusätzlich den Vorteil hat, dass die Drinks die schönsten Melancholien der Welt im Namen tragen: Call me by your name, Heartbreak, Will you still love me tomorrow. Es gab auch mal A rainy day in Jork, daraus ist inzwischen auf wundersame Weise (und warum nur?) Still raining in Jork geworden – beeriger Gretchen-Gin, Lavendelblütenhonig, Zitronensaft, Crémant, und mitten im Glas schwimmt ein Lavendelzweig. Ich setze mich an den Tresen, betrachte den Zweig mit sofort wieder einsetzender Großzügigkeit, und der John Keats in mir beginnt mit dem Nature Writing.

