Was unser Umgang mit Leitungswasser über die Gesellschaft erzählt

Seit unsere Autorin das verdreckte Innere der Leitung gesehen hat, aus der ihr Wasser fließt, fragt sie sich: Kann man wirklich auf das Kollektivgut Wasser vertrauen?

Foto Erli Grünzweil

Seit zwei Monaten funktionieren die Wasserhähne in unserer Wohnung in Ostberlin nicht mehr. Die Rohre sind so veraltet, dass auf dem Foto, das mir ein Klempner vom Inneren gezeigt hat, nur noch ein archäologisches Relikt zu sehen ist, bei dem man nicht anders kann als es für krebserregend zu halten – eine schwarze, versteinert wirkende Masse, Eisen und Mangan, Kalk und Sedimente. Das Rohr wirkt wie eine Arterie, die sich langsam verschlossen hat. Hier ist kein Körper betroffen, sondern ein ganzer Stadtteil, irgendein imaginäres Kollektiv, das aus den unsichtbaren Gefäßen der Infrastruktur versorgt wird.

Die private Immobiliengesellschaft Deutsche Wohnen SE, die die Wohnung vor einigen Jahren übernommen hat und im Fokus von Mietprotesten steht, schickt willkürlich Klempner und Gutachter vorbei, nie dieselben. Ab und zu schildern wir das Problem telefonisch jemandem vom Kundenservice, der oder die dann mehrfach den Ausdruck »oberste Prio« wiederholt und versichert, dass sich jemand melden werde, was nur dann passiert, wenn man noch mal anruft, manchmal aber auch gar nicht, zwischendurch ertönt nicht mal mehr Musik in der Warteschleife. Die ersten Wochen haben wir kistenweise Evian das Klo runtergegossen. Mittlerweile hat ein Klempner einen gelben Schlauch installiert, der zwischen kaputtgeschlagenen Fliesen aus der Wand ragt und uns ermöglicht, kaltes Wasser aus einem Loch im Rohr in Eimer abzufüllen. Der Kampf um die Erneuerung der Rohre ist ein endloses Unterfangen, die Situation wurde im Onlineportal nach jedem erfolglosen Besuch eines neuen Zuständigen als »erledigt« markiert.

Aber darum geht es in diesem Text nicht, sondern um etwas, worüber ich mir seit diesem Komplettausfall täglich Gedanken mache: Leitungswasser als Paradox. Objektiv betrachtet streng geprüft und unbedenklich, subjektiv ein Medium voller Assoziationen von Schmutz, Verfall und Krankheit. In London kursierte mal die urban myth, es sei, bevor es bei einem ankommt, bereits durch sieben andere Körper gelaufen, was völliger Quatsch ist, aber haften bleibt. Leitungswasser in Deutschland ist streng gefiltert, mineralhaltig und oft gesünder als das Wasser, das wir für 200 Mal so viel Geld in Flaschen kaufen. Und trotzdem erzählt die schwarze Verkrustung in den Leitungen von Ablagerungen, die sich uns entziehen, und Schichten, die wir nicht kontrollieren können. Natürlich denkt man beim Trinken weniger gern an die Stadtwerke als an Island oder die Alpen oder die Vulkaneifel – und eine Konsumentscheidung für abgefülltes Premiumwasser fühlt sich immer sicherer an, als sich auf etwas verlassen zu müssen, dem der verlotterte Beigeschmack des »Systemischen« anhaftet. Anders formuliert: Leitungswasser assoziieren wir mit Kontrollverlust, ohne es bewusst mitzukriegen. Während Mineralwasser lange für Autonomie und Wahlfreiheit stand – bevor die berechtigte Panik vor Mikroplastik zunahm.

Meistgelesen diese Woche:

Vermutlich ist deshalb in meinem Umfeld jetzt ständig von Wasserfiltern die Rede. Samsung hat einen neuen, KI-gesteuerten auf dem Markt, mit Spracherkennung, 900 Euro, bisher leider nur in Südkorea. Eine Art Selbstversicherung: Man umgeht das Gemeinsame, die öffentliche Infrastruktur, weil die einzige Aussicht zu überleben auf individuelle Strategien baut. Diese Tendenz findet sich in extrem vielen Bereichen, und sie lässt sich auf irgendwas zwischen den zwei folgenden Grundgedanken reduzieren: »Survival of the fittest« und »We are better than them«. Lasst die ganzen Versager ruhig krepieren an schlechter Infrastruktur und renditegeilen Verbrecherfirmen, wir sind smart genug, um uns in Sicherheit zu bringen.

Vor einigen Tagen habe ich die Qualität des Wassers testen lassen. Und es ist, trotz dieser über Jahre mit Dreck verdichteten Leitungen, immer noch okay.