In Berlin, wahrscheinlich nicht nur dort, stehen immer mehr junge Erwachsene in paramilitärischen Lycra-Schichten an den Tresen von Bootcamps rum – sie haben 26 Euro bezahlt, um sich beim HIIT-Training anschreien zu lassen (»Push through!«, »No excuses!«) und überlegen jetzt, nach dem Training, vom wiedergewonnenen Gefühl der Selbstwirksamkeit beflügelt, ob sie noch weitere 8 bis 14 Euro für einen mit Whey-Isolat und Matcha versetzten Shake ausgeben sollen, der »Match made in Heaven« oder »Skinny Bitch« heißt und im besten Fall dazu führt, dass sie den Rest des Tages nichts mehr essen.
Ich mache das auch. Nicht oft, aber manchmal. Meistens, um damit Gefühle von Kontrollverlust zu kompensieren. Ich bin nicht stolz darauf, wirklich nicht. Wenn das Workout gut war, stehe ich danach mit einem dieser Shakes auf der Friedrichstraße und verpasse mehrere Ampelphasen, weil ich über die soziologische Bedeutung des soeben absolvierten Vorgangs nachdenke: In einer chaotischen Welt gibt militärisch codierte Fitness offenbar Halt. Laut der Compensatory Control Theory von Kay und Whitson suchen Menschen, die erleben, dass sie keine Kontrolle mehr über äußere Ereignisse haben, nach Ersatzformen von Ordnung. Der eine Weg ist die subjektive Kontrolle – damit ist im weitesten Sinne die Kontrolle über den eigenen Körper gemeint: Sport, Rituale, oft fällt beides zusammen. Der zweite Weg ist die delegierte Kontrolle – der Glaube an übergeordnete Systeme wie Religion, AfD, freie Marktwirtschaft oder, und jetzt kommen wir zu den Proteinshakes zurück: Self-Care. Ich würde grob schätzen, dass »High Protein« seit 2020 als universelles Gesundheitsversprechen anerkannt wurde, kein guilt, kein crash, pure muscle love, selbst Snickers-Riegel kommen als funktionale Nahrungsmittel rüber, solange eine aggressive Aufschrift damit wirbt, dass ihr Proteingehalt höher ist als vorher.
Wenn man sich den Zyklus von Ernährungstrends anguckt, steht der Proteinboom heute ziemlich genau zwischen Distinktion und beginnender Ernüchterung. Die meisten Hobbysportler erreichen ihren Proteinbedarf sowieso, es ist sinnlos, viel Geld für irgendwelche mit Süßstoff und Eiklarprotein versetzten Milchersatzprodukte auszugeben, wenn das, was sie so teuer macht, im besten Fall wirkungslos wieder ausgeschieden wird. Das heißt: Man könnte genauso gut Wasser, geschredderte Mandeln und das Fünftel einer Banane mit Verdickungsmitteln und Stevia mischen, macht man aber nicht. Weil Proteinzufuhr für viele Menschen mit ihrer Sportroutine verschmolzen zu sein scheint und, zumindest aus meiner marketingkritischen Perspektive, fast an Zwang grenzt. Worum geht es da wirklich? Ist das noch Fitness oder schon körperliche Aufrüstung? Sogar Kriegstüchtigkeit? Kann man diese Shakes als eine konjugierbare Alternative zur Grundausbildung bei der Bundeswehr denken? Ist der Grund für diese ganzen Proteinrituale, dass sich Menschen für ihr Erwachsenenleben in Krisenzeiten stählen wollen, sind sie die zivile Ersatzhandlung für das Ausbleiben der kollektiven Wehrpflicht?
Ich habe genau das ChatGPT gefragt. Und ChatGPT hat tatsächlich geantwortet, origineller, als ich das gekonnt hätte: Der Proteinshake sei die, Achtung: neoliberale Muttermilch. Das Trinken ein hoch ritualisierter Akt, der zum Gefühl von Sofortversorgung in einer prekären Welt führe.
Auf den Proteintrend ist übrigens ein Knochenbrühentrend gefolgt. Und wenn morgen ein paar Influencer mit Clean-Aesthetic anfangen, frittierte Ente als Superfood zu verkaufen – (»mehr B-Vitamine«, »traditionelle Kraftnahrung!«) –, stehen wir nach dem Training wahrscheinlich alle mit frittierter Ente rum. Was nicht so schlimm ist: Hauptsache, man macht irgendwas zusammen. Egal, wie sinnlos es sich anfühlt.

