Jörg Albrecht forscht am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig über den Zusammenhang zwischen Religion und Ernährung:
»Was viele heutzutage nicht mehr wissen: Früher galt die Adventszeit im Christentum als wichtige fleischlose Fastenzeit, die in der Regel am ersten Weihnachtsfeiertag endete. Da man aber bereits an Heiligabend festlich speisen wollte, stellte der Weihnachtskarpfen eine willkommene Alternative zu Fleisch dar. Fisch galt im Christentum nämlich lange nicht als solches. Das können wir heute darauf zurückführen, dass Christen davon ausgingen, Fisch enthalte kein Blut und sei sozusagen »kaltes Fleisch«, auch wegen seiner Herkunft aus dem Wasser. Außerdem nahmen sie an, Fische seien geschlechtslos und würden sich nicht durch geschlechtliche Zeugung fortpflanzen. Damit galten sie als rein und durften deshalb auch in der offiziellen Fastenzeit auf dem Teller landen.
Der Karpfen eignete sich als Festmahl besonders, weil er recht groß ist und in den sogenannten R-Monaten, von September bis April, Saison hat. Heute wird er vor allem in Nord- und Mitteldeutschland auf die traditionelle Art als »Karpfen blau« mit Kartoffeln und Meerrettich serviert. Neben dem Weihnachtskarpfen existiert allerdings auch der Silvesterkarpfen als Tradition. Das lässt sich darauf zurückführen, dass die Fastenzeit vom vierten bis zum zwölften Jahrhundert noch bis zum sechsten Januar galt. Ein sehr wichtiger Punkt, der in der Forschung allerdings immer wieder auffällt: Häufig entstehen Traditionen wie diese aus einer Notwendigkeit heraus, die lediglich durch den Glauben gerechtfertigt wird. So existiert auch in vielen osteuropäischen Ländern wie Tschechien, der Slowakei, Ungarn oder Polen die Tradition des Weihnachtskarpfens, wo er allerdings paniert mit Kartoffelsalat, ähnlich auch im süddeutschen Raum, oder als Sülze serviert wird. Diese Tradition taucht teilweise allerdings zum ersten Mal im Laufe des Kommunismus auf und wurde als Notlüge etabliert, um die Mangelwirtschaft zu vertuschen. Fleisch war einfach zu teuer für die Bevölkerung.«