Kann ich von meiner Tochter verlangen, mit mir Weihnachten zu feiern?

Das fragt eine alleinstehende Leserin, deren Tochter nach vielen gemeinsam verbrachten Festtagen heuer mal andere Pläne hat. Johanna Adorján hat dazu eine klare Meinung.

    Illustration: Serge Bloch

    »Ich werde dieses Jahr 80 Jahre alt. Seit ich denken kann, haben meine jetzt 50-jährige einzige Tochter und ich den Heiligen Abend zusammen verbracht. In guten und in schlechten Zeiten – auch mit meiner Mutter zusammen, bis zu deren Tod. Die vergangenen Jahre verbrachten wir ihn gemeinsam in ihrem Haus mit ihrem Mann und meinem Lebensgefährten. Nun ­eröffnete sie mir, dass sie eventuell mit ihrem Gatten über Weihnachten in den Urlaub gehen möchte, dies hat mich sehr ­erschüttert. Wir haben ein sehr inniges Verhältnis, ich war ­alleinerziehend. Was soll ich tun? Könnte ich sie bitten, die ­letzten Jahre meines Lebens das Ritual beizubehalten, oder ist das erpresserisch und anmaßend?« Christine W., Stuttgart

    Ich würde es nicht gleich erpresserisch oder anmaßend nennen, wenn Sie es täten, aber es wäre auf jeden Fall auch nicht sehr großmütig. In diesem Spiel hier sind Sie die Mutter. Das dürfen Sie nicht vergessen. Und Ihre Tochter ist das Kind. Vielleicht hat sie sich nach all den vielen Jahrzehnten einfach mal verdient, den Dezember so zu verbringen, wie sie das will. Sie und ihr Mann. Zwei erwachsene Menschen, die dieses Jahr aus Gründen, die uns nicht weiter beschäftigen müssen, über Weihnachten verreisen wollen. Oder jedenfalls eventuell.

    Stellen wir uns einmal vor, Ihre Tochter würde tatsächlich auf den ersehnten Urlaub verzichten. Würden Sie sich denn wirklich wohlfühlen, wenn Sie den ganzen Weihnachtsabend lang wüssten, sie und ihr Mann wären gerade viel lieber woanders? Das Fest wäre doch dann wie ein Theaterstück, das nur Ihnen zuliebe aufgeführt wird. Jeder sagt seinen Text auf, alle bewundern artig den Weihnachtsbaum, aber der Zauber, der auf diesem Abend liegen könnte, ist doch in Wahrheit schon mit dem ausgesprochenen Wunsch Ihrer Tochter verflogen, dieses Jahr woanders sein zu wollen. Wie wäre es, wenn Sie Ihrer Tochter insgeheim, ohne es groß zu thematisieren, das Weihnachtsgeschenk machen, sie diesmal von der Tradition zu befreien? Jede Wette, dass sie ohnehin nächstes Jahr wieder mit Ihnen feiern will.

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    Und Sie könnten jetzt schon damit beginnen, sich zu überlegen, wie Sie dieses Weihnachten gestalten wollen, das ja auch Ihnen neue Freiheit verleiht. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, mit anderen Alleinstehenden zusammen zu feiern? Oder selbst eine Reise zu machen? Oder stattdessen dieses Jahr Ihren Geburtstag ganz besonders feierlich zu begehen? Es ist doch der Wahnsinn, dass Sie diese Tradition so lange durchgezogen haben. Einmal ein bisschen Abwechslung ist doch vielleicht auch ganz schön.