»Eine Kollegin bei mir im Orchester (selbe Gruppe, selbe Hierarchie) hat mehrmals für eine bessere Stelle (in der Hierarchie weiter oben) vorgespielt. Es hat nie geklappt. Wir haben die ungeschriebene Regel, dass Kolleg*innen immer vorspielen dürfen. Sie möchte das nun ein sechstes Mal tun. Niemand möchte die Botschaft überbringen: Du bist toll, aber weiter geht’s nicht. Zuletzt waren nur noch vereinzelt Kollegen angetan. Wäre es unhöflich, direkt zu sein, oder lässt man sie wieder und wieder vorspielen? Ich mag die Kollegin und würde mir wünschen, dass das Sich-Verrennen aufhört.« Anonym, per Mail
Ich pflichte Ihnen bei, dass es nahezu ausgeschlossen ist, dass Ihre Kollegin bei einem weiteren Vorspiel auf einmal die bessere Stelle bekommt. Jemanden fünfmal abzulehnen, ist ja schon ein recht deutlicher Hinweis. Und irgendwann spielt bestimmt auch der psychologische Effekt mit hinein, dass jemand von außen, der sich neu vorstellt, für das Orchester als größerer Gewinn wirkt, sexier als die allen bekannte Kollegin, die hier gerade zum sechsten Mal versucht, einen Platz nach oben zu rutschen. Und zwar völlig gleich, ob sie in letzter Zeit erhebliche technische oder musikalische Fortschritte gemacht hat. Irgendwann wirken solche Versuche ja auch einfach ein bisschen tragisch.
Wenn Ihnen etwas an Ihrer Kollegin liegt, reden Sie mit ihr. Vielleicht kommt sie aus einem stark leistungsorientierten Kulturkreis oder einer Familie, in der galt: Wer nur hart genug arbeitet, kommt irgendwann ans Ziel. Vielleicht leidet sie auch an einer leichten Form der Selbstüberschätzung. Oder bezieht die soziale Komponente nicht in ihr Vorhaben ein, dass sie es hier mit einer Hierarchie zu tun hat, die sie offenbar bereits an ihrem richtigen Platz sieht. Sie könnten sie fragen, ob sie sich denn wirklich Chancen ausrechnet. Und nicht fürchtet, dass es ihre Position eher schwächt, wenn sie sich das zu erwartende Nein abholt, das nicht einmal an ihr liegen muss, sondern in der Psychologie einer hierarchisch organisierten Gruppe begründet ist, die wohl kaum die Größe haben wird, auf einmal anzuerkennen, wie begnadet die Kollegin doch ist, die man zuvor also völlig zu Unrecht so viele Male unterschätzte. Und vielleicht ist sie ja auch gar nicht so naiv, sondern sagt sich, okay, letzter Versuch, wenn’s wieder nichts wird, verlasse ich das Orchester. Auch dann wäre es auf jeden Fall netter, mit ihr gesprochen zu haben statt nur über sie.
