»Kürzlich half ich auf einer Bahnfahrt einem alleinerziehenden Vater, seinen Kinderwagen in den Zug zu heben. Als er sich daraufhin mir gegenüber niederließ, sah ich, dass er mehrere Symbole der Neonazi-Szene tätowiert hatte. Ich bin eine lesbische Frau – dieser Mann will mich also im schlimmsten Fall tot sehen. Beim Ausstieg bat er mich noch einmal, ihm zu helfen, was ich auch tat, weil ich nicht wollte, dass sein Kind eventuell zu Schaden kommt. Hätte ich das tun sollen? Oder sollte man Menschen, die sich der Intoleranz verschworen haben, ebenfalls mit Intoleranz begegnen und ihnen die Hilfe verweigern?« Anonym, München
Ich glaube, die große Frage ist: Was für ein Mensch möchte man sein? Und Sie haben diese Frage beantwortet, indem Sie diesem Mann auch dann noch halfen, als Sie um seine Gesinnung wussten. Vielleicht hätten Sie etwas zu ihm sagen können, während Sie seinen Kinderwagen aus dem Zug hoben. Dass Sie ihm sehr gern helfen würden, ihm aber sagen wollten, dass Sie seine Tätowierungen problematisch finden. Ich glaube nicht, dass das bei dem Mann zu einem Umdenken geführt hätte, aber Sie hätten hinterher vermutlich weniger darüber gegrübelt, ob Sie richtig handelten.
Und man weiß ja nie. Die US-amerikanische Komikerin Sarah Silverman hat vor einigen Jahren einmal Trump-Supporter besucht. Sie selbst ist politisch links, wollte der politischen Gegenseite aber nicht reflexhaft mit Ablehnung begegnen, sondern mit Neugier. Was sind das für Menschen, die gegen alles sind, wofür ich bin? Ungefähr so lautete die Frage, mit der sie, begleitet von einem Kamerateam, Hardcore-rechts-Wähler traf. Und siehe da, es wurden gute Begegnungen. In denen beide Seiten einander zuhörten und man sich von Mensch zu Mensch in die Augen sah, nicht von Feind zu Feind. Oder denken Sie an Renate Künast, die einmal für eine großartige Spiegel-Reportage Leute aufsuchte, die ihr auf Twitter den Tod an den Hals gewünscht hatten. Als die Politikerin auf einmal vor ihnen stand, fiel der ganze Hass in sich zusammen, und da standen nur noch Menschen, denen es peinlich war, wozu sie sich hatten hinreißen lassen. Oder denken Sie an Margot Friedländers Aufforderung, Menschen zu sein.
Man sollte sich von niemandem dazu zwingen lassen, die eigenen Werte aufzugeben. Und das soll jetzt alles bitte nicht jesus-mäßig klingen, aber die Welt ist negativ genug, als dass wir jemandem, der darum bittet, ihm mit seinem Kinderwagen zu helfen, die Hilfe verweigern.

