»Meine kleine Schwester beging vor ein paar Monaten Suizid, sie war 24 Jahre alt, wir standen uns nahe. Seit Jahren litt sie an einer schweren Borderline-Erkrankung. Auf der Beerdigung hielt ich eine sorgfältig recherchierte Rede über psychische Erkrankungen und deren Tabuisierung in der Gesellschaft. Freunden und Bekannten jedoch erzähle ich, sie sei verunfallt, ich bin einfach zu erschöpft, die Leidensgeschichte meiner Schwester immer und immer wiederzukäuen. Bin ich eine Heuchlerin?« Clara K., München
Trauern ist ein Prozess. Sie werden wahrscheinlich nie über den Tod Ihrer Schwester, wie man sagt, hinwegkommen, aber Sie werden lernen, damit zu leben. Gerade Suizid löst bei den Hinterbliebenen sehr widersprüchliche Gefühle aus. Es gilt ja nicht nur einen Tod zu begreifen, was schwer genug ist, sondern auch noch eine vorsätzliche Tat. Daraus resultieren viele Fragen, die man sich leider nur mehr selbst beantworten kann. Es dauert, bis man eine Version gefunden hat, mit der man seinen Frieden schließen kann. Letztlich ist die Erklärung, wie für alles im Leben, nur eine Geschichte, die man sich selbst erzählt.
Insofern müssen Sie wirklich kein schlechtes Gewissen haben, wenn Sie nicht sofort allseits mit der sogenannten Wahrheit herausrücken, sondern mit einer, irgendeiner, Version, die Sie nicht quält. Wahrscheinlich werden Sie es irgendwann einmal erzählen können. Vielleicht wird es sogar eine Zeit geben, in der Sie es erzählen wollen. Ich garantiere Ihnen, dass selbst diejenigen, denen Sie heute sagen, es sei ein Unfall gewesen, Ihnen nicht böse sein werden, sollten sie irgendwann einmal erfahren, wie es wirklich war. Das wird jeder verstehen. Machen Sie sich da nicht die geringste Sorge.
Darf ich abschließend sagen, dass es mir sehr leidtut, dass Ihre kleine Schwester sich das Leben genommen hat. Das ist wahnsinnig traurig. Man liest aus Ihrer Frage heraus, welche Anstrengung es Sie kostet, das Leben im Moment zu meistern, in dem eine sorgfältig recherchierte Rede einen vermutlich auch nur für Momente vor der Traurigkeit schützt. Ihre Schwester ist tot. Sie schulden niemandem irgendetwas. Erzählen Sie den Leuten, was Sie wollen. Oder erzählen Sie nichts. Seien Sie nachsichtig mit sich und geduldig und passen Sie gut auf sich auf.
Wenn Sie von Suizidgedanken betroffen sind, kontaktieren Sie die Telefonseelsorge (telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.