Erwin Hapkes Geheimnis

Die Geschichte eines Mannes, der nach einem Leben im Verborgenen viele Rätsel hinterließ – und viele tausend selbst gefaltete Papierfiguren, deren Komplexität Kenner zutiefst beeindruckt.

»Insektenraum« nennt ­Erwin Hapkes Neffe das Zimmer mit Tischen voller Käfer, Heuschrecken und Schmetterlinge. Dazwischen liegen ein Kinderbuch, ein Biologiebuch und eine naturwissenschaftliche Zeitschrift – wie für Besucher ausgelegt.

Die Welt des Erwin Hapke ist bedroht. Sie riecht muffig, im Winter schlimmer als im Sommer. Hapkes Welt besteht aus vielen Tausenden Tieren und einigen Dutzend Menschen. Farbige, gefaltete Figuren aus Papier, die meisten nicht größer als zehn Zentimeter, viele mit Tesafilm auf Papptafeln geklebt, die an die Wände genagelt wurden, einige sind einzeln mit Nadeln festgepinnt oder stecken mit ihren Füßen in Papiertütchen. Und in Kartons liegen sie gestapelt, auf dem Boden und auf Tischen: Käfer, Heuschrecken, Schmetterlinge, Vögel, Pinguine, die meisten davon in Stellungs- und Bewegungsvariationen. Keine Figur gleicht einer anderen. Erwin Hapke war Biologe und hat seine eigene Ordnung im Tierreich entworfen: nach Ähnlichkeit des Faltcodes, der der genetischen Verwandtschaft und Abstammung entsprechen sollte. Hapkes Welt droht unterzugehen, weil die Tiere in den Kartons anfangen zu schimmeln. Das Papier an den Wänden und auf Böden verliert durch Luftfeuchtigkeit seine Form, die Säurereste verschiedener Kleber fressen sich durch die Figuren, teilweise jahrzehntealter Tesafilm vermag sie allmählich nicht mehr zu halten. ­Sobald man sich bewegt, drohen einzelne Figuren von der Wand zu wehen.

Die selbst gefertigte Origami-Sammlung steht in einem ehemaligen Schulgebäude, einer Dorfschule, die Erwin Hapkes Vater in den Sechzigerjahren für seine sechsköpfige Familie kaufte. Ein Dutzend Räume auf zwei Geschossen. Erwin Hapkes Arbeitszimmer und sein Schreibtisch, an dem er gefaltet hat, sehen nun, vier Jahre nach seinem Tod, unberührt aus. Der Garten ist verwildert, die Treppe zum Speicher eng und steil. Oben stehen größere Faltfiguren aus Blech. Wie Hexen sehen sie aus. Dazwischen Kisten mit echten Mäuse- und anderen Tierschädeln, mit aufgespieß­ten Schmetterlingen, eine Käfer-, eine Mineraliensammlung in Koffern. Die Treppe hinunter geht man am besten rückwärts, die Trittflächen sind klein, doch rückwärts droht man die Figuren von der Wand zu reißen. Hapkes Welt leidet an jedem Besucher.

Niemand hat die Papier­figuren gezählt. Es müssen zehn­tausende sein

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Erwin Hapke machte das Haus nach dem Tod seiner Eltern zum Museum und brachte Inschriften an den Wänden an: »Wer kein Papierfalten mag, hat es gut, braucht nichts zu machen außer Schlafen + Fernsehen.« Das Haus steht irgendwo in Fröndenberg in der Nähe von Unna, am Rande des Ruhrgebiets. Genauer soll es vorerst niemand wissen, denn das Museum ist unbewacht. Es war ein Museum ohne Besucher – Hapke ließ die letzten 35 Jahre seines Lebens niemanden ins Haus. Heute wissen seine Angehörigen immer noch nicht, was sie mit den Papierfiguren anfangen sollen. Niemand hat sie gezählt. Es müssen Zehntausende sein. Immer wieder findet sich irgendwo ein weiterer Koffer oder Karton voller Tiere.

Wie einsam muss ein Mensch sein, der 35 Jahre lang kaum sein Haus verlässt und niemanden einlässt? Kann eine Welt so geheimnisvoll sein, dass ihr einziger Erschaffer und Bewohner sich nie nach Gesellschaft sehnt? Wer war dieser ­Erwin Hapke? Gewiss, ein Mann, der sich seine eigene Fanta­siewelt geschaffen hat. Vielleicht auch sein eigenes Gefängnis.

Er wurde 1937 als das älteste von vier Geschwistern geboren. Das und weniges mehr kann seine Schwester, Erni Burchardt, heute über ihn sagen. Als die Familie aus Ostpreußen floh, war Erwin sieben. Im Schwarzwald riefen die Mitschüler den Geschwistern hinterher: »Die Russen kommen!« Erwin beschützte seine zwei Brüder und die Schwes­ter. In der Schule war er ein Einzelgänger, der nie beim Fußball mitspielte und in der letzten Bank oft allein saß. In der Natur war er glücklich, sagt die Schwes­ter. Mit den Tieren. Erwin päppelte ein Starenbaby auf, das aus dem Nest gefallen war. Verzog sich bei Familientreffen zum Mikroskopieren in sein Zimmer. Die Schwester nennt ihn noch heute hochbegabt. Von der Flucht­erfahrung traumatisiert, vermutet Matthias Burchardt, der Sohn der Schwester. Er ist in Köln Dozent für Philosophie. Erwin hatte nie Freunde, sagt Erni Burchardt. Und nie eine Freundin. Deswegen hat er sich auf die Eltern fixiert. Den Vater regelrecht verehrt. Sieht man, wenn man durchs Haus geht: Fotos vom Vater, seiner Heimat, darunter Zeilen, die den Vater als Schützer und Ernährer der Familie feiern.

Hapke verließ das Haus nur zu ­Einkäufen und zum Begräbnis seiner Eltern

In Gießen studierte Erwin Hapke Anfang der Sechzigerjahre Biologie, er promovierte sogar. In Wilhelmshaven arbeitete er am Max-Planck-Institut für Zellbiologie. Irgend-etwas muss schiefgegangen sein. Vielleicht gab es Krach, weil der leitende Professor ein Forschungsergebnis von Hapke für sich beanspruchte und unter eigenem ­Namen veröffentlichte. Das könnte sich Hapkes Neffe gut vorstellen. Er kann allerdings auch nicht ausschließen, dass sein Onkel einfach sozial unverträglich war. Als das Institut schloss, wurde Erwin Hapke jedenfalls nicht übernommen und auch nicht an einen anderen Ort versetzt. 1981, mit 44 Jahren, kehrte der arbeitslose Erwin Hapke in sein Elternhaus zurück, Vater und Mutter lebten noch. Hapke zog sich zurück von der Welt. Das Haus sollte er bis zu seinem Tod nur zu Einkäufen und zum Begräbnis der Eltern verlassen. Nie bezog er staatliche Hilfen, der Vater unterstützte ihn finanziell, hörte nie auf, an den Sohn zu glauben, sagt die Schwester. Erwin Hapke pflegte den Vater bis zu dessen Tod. Als Erwin Hapke dann selbst mit dem Fahrrad stürzte, konnte er nicht mehr allein zum Einkaufen gehen. Die Schwester übernahm das und stellte ihm jahrelang einmal die Woche Lebensmittel vor die Tür, manchmal ließ der Bruder sie ins Elternhaus, aber nur unten in die Küche. Er verbot ihr sogar den Besuch des sterbenden Vaters.

2016 stürzte Erwin Hapke erneut, diesmal im Haus, und erfror auf dem Boden seines Arbeitszimmers. Das diagnostizierte ein Arzt, nachdem die Schwester sich nach Tagen vergeblicher Anrufe ins Haus getraut hatte, einen Schlüssel besaß sie nicht, aber der Wintergarten war unverschlossen. Am 24. März 2016 wurde Erwin Hapke begraben.

Nach der Beerdigung betrat Matthias Burchardt, Hapkes Neffe, das Haus zum ersten Mal seit seiner Kindheit. 15 Jahre lang hatten sich Onkel und Neffe nicht gesehen.

Als Kind liebte Matthias Burchardt seinen Onkel, den Ers-ten in der Familie, der studiert hatte. Seltsamer Typ, Eigenbrötler, aber eine schillernde Persönlichkeit und ein toller Erzähler, interessiert und belesen. Mit dem Neffen unterhielt er sich stundenlang, später schenkte er ihm seine gesamte philosophische Bibliothek, als Matthias Burchardt sein Studium begann. Irgendwann brach der Kontakt ab, der Neffe bekam Kinder, promovierte in Philosophie, ging an die Uni, die Besuche wurden seltener. Bald wollte der Onkel den Neffen nicht mehr sehen.

Nach dem Begräbnis war Matthias Burchardt verblüfft vom Erbe seines Onkels. Er wusste, dass der Onkel Origami mochte, aber er ahnte nichts von dem Ausmaß. Was tun mit all den Figuren? Ins Museum? Zum Altpapier? Die ­Familie weiß keine Antwort. Das Papier müsste dringend restauriert werden, das Haus ist marode und unbewohnbar. Schwester und Neffe sind mit dem Erhalt von Haus und Sammlung allmählich überfordert, finanziell und emotional. Der Bürgermeister würde das Haus gern in ein ordentliches Museum umwandeln. Der Kunstverein Bamberg plant für Ende des Jahres eine Hapke-Ausstellung. Ein Buchverlag will eine Auswahl der Werke für die Nachwelt festhalten. Art Brut, im Englischen auch Outsider Art, nennt man die oft verstörende Kunst von Autodidakten, Laien oder Menschen mit einer psychischen Erkrankung jenseits etablierter Formen und Strömungen. Kann man Hapkes Werk dazurechnen? In jedem Fall hat er eine Verfügung hinterlassen: Seine Papierbilder sollen immer im Haus beisammen bleiben. Für aushäusige Ausstellungen müssten sie also nachgebildet werden. Daran hat sich der Neffe nicht gehalten: Ein Teil der Sammlung wurde 2017 in Zürich gezeigt.


Derzeit unter­suchen Experten Hapkes Faltanleitungen

Matthias Burchardt fand auch Anschreiben seines Onkels an Origami-Kollegen und Fachverlage. Hapke suchte also vereinzelt Kontakt zur Außenwelt – aber die wollte zu Lebzeiten anscheinend nichts von ihm wissen. Derzeit untersuchen Experten seine Faltanleitungen für verschiedene Motivgruppen, die Hapke im Eigenverlag herausgebracht oder im Computer hinterlegt hat. Das Fachmagazin der Falter zeigt sich von der Komplexität der Hapke-Krabbe beeindruckt und rätselt über das zugrundeliegende Prinzip einer von Hapkes Reihenfaltungen, die sie »Zweibein« nennen.

Die Papierwelt erinnert Matthias Burchardt an Gottfried Wilhelm Leibniz’ »Monaden-Theorie«, derzufolge ein Mensch die ganze Welt in ihrem Reichtum in sich und aus sich hervorbringen kann. Burchardt ist sich sicher, dass Erwin Hapke nachts durch sein eigenes Museum spazierte. Er stellt sich seinen Onkel als einen glücklichen Menschen vor.