Meine Großmutter war eine Frau mit großem Herz und einem ebenso großen Wortschatz. Als gebürtige Bulgarin gehörte sie zu den Juden, die kulturell an der Grenze zwischen dem aschkenasischen und dem sephardischen Judentums kratzten. Bis heute gibt es kulturelle Keile etwa zwischen einem Juden aus dem ukrainischen Belz (einem Aschkenasi) und einem Juden aus dem spanischen Bilbao (einem Sepharden). Beide mögen dieselbe Religion haben. Doch beide wird für immer die Frage trennen, ob ein traditionelles Schabbatgericht mit Pfeffer oder mit Kreuzkümmel zubereitet wird.
Meine Großmutter trug den wunderschönen Namen Schoschana Peretz, sie roch nach »Kamill Handcreme«, ich kannte sie bis zuletzt ausschließlich mit kastanienbraunem Haar und einer Kittelschürze, die sie oft trug, da sie viel und gerne kochte. Besonders gerne aß ich als Kind Innereien mit einer würzig-scharfen Tomatensoße. Sie konnte sich in allen Sprachen des Balkans unterhalten, verstand ein wenig Türkisch und fluchte und liebte auf Ladino, das hierzulande nahezu unbekannt ist. Ladino ist Judenspanisch, das die spanische Inquisition und Pogrome im venezianischen Getto mit Ach und Krach überdauerte. Schoschana trug all dies in sich – 500 Jahre alte spanische Wurzeln, orientalische Hitze, slawische Wärme und ihre Reise als 17-jähriges Mädchen von Bulgarien ins ersehnte Palästina.
Ladino, das heute weltweit nur noch von wenigen Tausend Menschen gesprochen und in Israel seit einigen Jahren mit Kulturgeldern am Leben erhalten wird, klingt, wie sich ein Federkissen anfühlt. Das spanische Hijo, Sohn, wird zum Beispiel wie Ischu ausgesprochen, wobei das Sch wie im Namen Georgette klingt. Butterweich. Ladino klingt für mich wie Zuhause, wenngleich ich kaum mehr als drei Worte spreche. Doch durch ihre sephardisch-aschkenasische Art zu kochen, zu sprechen und zu lieben, prägte meine Großmutter uns alle nachhaltig. Sie herzte uns mit spanischen Kosenamen wie Chiquitita und schlug sich zur Selbstgeißelung theatralisch mit einem Kochlöffel auf den Kopf, wenn wir Enkelkinder frech wurden.
Wieso erzähle ich das überhaupt? Seit einigen Nächten träume ich wieder von meiner Großmutter. Kürzlich bin ich an einem Buchladen vorbeigelaufen. Ich betrachtete die Auslage, in deren Sektion »jüdische Bücher« es von albern kolorierten Buchtiteln wimmelte. Die Titel waren eine willkürliche Aneinanderreihung von sprachlichen Klischees: Mazel Tov, Mischpoke, Meschugge. Kurzum: Jiddisch. Eine rund tausend Jahre alte Sprache, die von aschkenasischen Juden in weiten Teilen Europas gesprochen und geschrieben wurde und mit der sich heute ultraorthodoxe Juden in Israel, New York und Antwerpen verständigen. Es heißt übrigens Mischpoche, nicht Mischpoke.
Doch mir, der deutschen Jüdin mit sephardischer Großmutter, ist Jiddisch als Idenitfikationsanker fremd. Ich verspüre durch jenes Jiddisch, das in Deutschland als ulkiger Einheitsbrei verkauft wird, keine Sehnsucht nach einer längst vergessenen Heimat. Und Klezmer, die Melodie der sterbenden Klarinette, ist für mich der Soundtrack eines Films, in dem ich nur Statistin bin. Die Melange aus Mittelhochdeutsch, Aramäisch, Slawisch und Hebräisch bildet eine Patina auf dem Begriff »jüdische Kultur«, die in Deutschland selbst mit mühsamem Polieren an Ort und Stelle bleibt. Wer sich in Deutschland einen Juden vorstellt, denkt wahrscheinlich oft an den Fiedler auf dem Dach und einen Schlemihl, der durchs Leben stolpert und »oy vey« ruft. Wer jedoch wirkliches Jiddisch kennt und versteht, der weiß, wie viel Liebe und Schmerz in der Ursprache der osteuropäischen Juden steckt.
Es passiert häufig, dass meine Gegenüber krampfhaft den jiddischen Clown geben, wenn sie erfahren, dass ich Jüdin bin. Jiddisches Bullshitbingo, das meistens mit Schalömchen beginnt und sich über Chuzpe irgendwann zum Wort Schickse windet, dessen eigentlicher Bedeutung sich viele gar nicht bewusst sind: Schickse ist die abwertende Bezeichnung für eine nichtjüdische Frau. Da habt ihr’s. Ich erinnere mich daran, wie in der Mittelstufe eine Klassenkameradin in der Raucherecke wütend erzählte, dass ihr älterer Bruder mit einer »dummen Schickse« zusammen sei. Erfreut über das bisher unentdeckte jüdische Mädchen in meiner Stufe fragte ich mitfühlend, ob ihre Mutter ein Problem damit habe, dass der Sohn eine Nichtjüdin mit nach Hause bringt. Wir lebten in Köln, daher antwortete sie irritiert: »Watt? Hä? Nä! Die ist einfach ne olle Ische!«.
Natürlich reagiere ich auf Jiddisch wie der pawlowsche Hund. Es klingt vertraut, weil ich damit in den deutsch-jüdischen Einheitsgemeinden sozialisiert wurde. Doch mir fehlen die Facetten, die das Judentum zu einer viel bunteren Angelegenheit macht, als es das Mädchen mit dem roten Mantel in Schindlers Liste vermuten lässt. Das deutsche Bild der jiddisch sprechenden Juden ist bloß ein Teil des Kulturenpuzzles und nicht zeitgemäß. In meinen Augen derart unzeitgemäß, dass ich die gar nicht mal so schlechte Idee meines jüdischen Familienromans einmottete. Aus Angst, dass der Verlag schlussendlich doch »Meine meschuggene Mischpoke« auf den Titel drucken würde.
Ist dieser Stempel selbst aufgedrückt? Wenn ich mir die Programmpunkte sämtlicher jüdischer Kulturtage anschaue, dann kann die Antwort nur ja lauten. Doch sie lautet viel eher jein. Einerseits meine ich, dass man in Deutschland kein anderes Bild sehen möchte und sich nur langsam daran gewöhnt, dass in Berlin heute mehr als 16.000 Israelis das Stadtbild prägen und Anatevka selbst nur vom Broadway kennen. Andererseits empfinde auch eine Art Bringschuld, meine Geschichte einfach zu erzählen. Ladino, Lammragout und Okraschoten, anstatt Jiddisch, Gefillte Fisch und süße Möhren. Denn nur alles, was fremd ist, macht Angst.