Ich muss 13 oder 14 Jahre alt gewesen sein, als ich in den Sommerferien einige Tage bei meinen Großeltern verbrachte. Mein Großvater war, wie immer in den frühen Abendstunden, in seinem Büro im Keller verschwunden, wo er stundenlang den Wochenabschnitt für den nächsten Schabbat auswendig lernte. Damals war er noch als Vorbeter in einer Synagoge in Südwestdeutschland aktiv, eine Tätigkeit, der er schon als Jugendlicher im bolivianischen Exil leidenschaftlich nachging. Während er unten sang, telefonierte ich mit meiner Freundin aus Stuttgart, die ich wenige Monate vorher im Ferienlager, eine jüdische Ferienfreizeit, kennenlernte.
1999 hatte das Telefon im Flur noch eine Schnur und die Marmortreppe war zu kalt, um sich zu setzen, daher hockte ich mich im Schneidersitz auf den Teppichboden. Wir kicherten und quatschten seit einer Stunde, als mein Lachen plötzlich vom lauten Knall der Kellertür unterbrochen wurde. Ich blickte hoch und sah meinen Großvater schnaubend vor mir stehen. Er kam mir damals größer vor als heute und seine Stimme war, nicht zuletzt durch seine ausgefeilte Singtechnik, laut und voluminös. Ich legte wortlos auf, während er mich ohne Vorwarnung anschrie und mir wie vom Teufel besessen befahl, sofort vom Boden aufzustehen, schließlich würde ich nicht »Schiwesitzen«. Er ging in die Küche, nahm sich ein Glas Wasser und ging zurück in sein Kellerbüro. Nicht ohne die Tür ein zweites Mal zu knallen.
Völlig baff stand ich auf und verkroch mich wütend und fluchend in meinem Zimmer im ersten Stock. »Er meint es nicht so«, sagte meine Großmutter, als sie nach mir sah. »Als Jude sitzt man nicht auf dem Boden, das machen wir nur beim Schiwesitzen«. Sie nahm meine Hand, streichelte ihren Rücken und erzählte mir von meinen Urgroßeltern, ihren Schwiegereltern, die im Mai 1945 in Bolivien das Radio anstellten und erst dann vom eigentlichen Ausmaß des Holocaust erfuhren. Ihre Verwandten, Brüder, Schwestern, Nichten, Neffen und Schwager, weg. Asche im Himmel über Polen. So »saßen sie Schiwe«, die ersten sieben Tage der einjährigen Trauerzeit im Judentum, in der nahe Angehörige der Verstorbenen auf niedrigen Stühlen oder auf dem Boden sitzen. Schiwe kommt vom hebräischen Wort »Schewa«, das Sieben bedeutet.
Wir deckten sämtliche Spiegel mit weißen Tüchern ab, damit wir uns beim Trauern nicht mit Eitelkeiten beschäftigen. Mein Großvater rasierte sich für die nächsten 30 Tage nicht mehr und sah im Nu älter aus als er war.
Ich ließ mir die Jahre in Bolivien, fernab seiner Heimat an der Mosel, immer wieder von meinem Großvater beschreiben. Und er erzählte mindestens so gerne davon. So stellte ich mir die Reise mit dem Schiff und das neue Leben als Abenteuer vor, weil er mit bunten Details nicht geizte und voller Stolz berichtete, wie die jüdische Gemeinschaft innerhalb kürzester Zeit von Flucht auf Alltag umstellte. Und doch plagte ihn ein großer, nicht in Worte zu fassender Schmerz. Heute verstehe ich, dass damals, im Moment der knallenden Tür, keine messerscharfen Worte, sondern die Trauer der konservierten Bilder seiner auf dem Boden kauernden Eltern auf mich niederprasselte.
Fünf Jahre später sollte ich zum ersten Mal erfahren, was Schiwe sitzen wirklich bedeutet. Meine Tante, meine mütterliche Freundin, starb plötzlich mit nur 42 Jahren. Ein Schock, der unser Familienleben mit einem Grauschleier überzog. Auf einmal erweiterte sich mein Repertoire fröhlicher jüdischer Rituale um jene der Trauer. Wir deckten sämtliche Spiegel mit weißen Tüchern ab, damit wir uns beim Trauern nicht mit Eitelkeiten beschäftigen. Aus unserem Wohnzimmer wurde jeden Abend eine kleine Synagoge, in der Frauen und Männer das Kaddisch, das Totengebet sagten, mein Großvater rasierte sich für die nächsten 30 Tage nicht mehr und sah im Nu älter aus als er war.
Das Gefühlschaos während der unmittelbaren Stunden nach ihrem Tod ist in meinem Unterbewusstsein verschlossen, doch ein Bild geht mir bis heute nicht aus dem Kopf: Als ich nach der Beerdigung, die laut jüdischem Ritus einen, spätestens zwei Tage nach dem Tod stattfinden soll, in unser Wohnzimmer kam, saßen meine Großeltern nebeneinander auf großen Kissen auf dem Boden. Ich war gerade 19 Jahre alt, mitten im Abitur, unser Haus war voller Leute und am Rand – in schwarzer Kleidung – saßen sie stumm. Die Bluse meiner Großmutter und meiner Mutter und das Hemd meines Großvaters und Onkels hatte der Rabbiner noch vor der Beerdigung eingerissen. Zerrissene Kleidung als Zeichen eines zerrissenen Herzens.
Ich bewegte mich in den ersten Tagen wie ein Geist durch die Flure unseres Zuhauses. Diesem hektischen und liebevollen Ort, aus dem ein Ort in Zeitlupe wurde. Wir, meine Familie und ich, waren in den ersten sieben Tagen nur nachts alleine, bevor am Morgen Freundinnen und Freunde vorbeikamen. Sie brachten Essen, wir erzählten uns Anekdoten über meine Tante und lachten. Ich erinnere mich, wie eine Frau aus der Gemeinde ihre teuren Pumps auszog und in Nylonstrümpfen die Küche wischte. So waren wir nicht alleine, auch dann nicht, wenn wir uns nach Ruhe sehnten. Rückblickend verging die erste Woche und damit der erste von drei Abschnitten des jüdisches Trauerjahres wie im Flug. Ich lernte, dass ein Trauerhaus auch ein Ort der Freude sein kann. Freude über die Stärke der Gemeinschaft, die mir auch heute noch aufgrund ihrer dörflichen Struktur die Luft zum Atmen nimmt, mich jedoch in ihren Schoß fallen ließ, als mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.
Nach den ersten 30 Tagen, den »Schloschim«, begann das eigentliche Trauerjahr. Meine Mutter kaufte einen Stecker in Kerzenform, das Seelenlicht, das ab dann bis zum ersten Todestag in einer Steckdose neben dem Fernseher leuchtete. Ich wusste damals noch nicht, wie man ein ganzes Jahr in Kummer überstehen sollte. Doch das engmaschige Netz aus Bräuchen und Geboten, die dem ersten Jahr der Trauer Struktur geben, half uns allen. Die Spiegel waren wieder sichtbar, die Kissen lagen wieder auf, nicht neben dem Sofa und der Bart meines Großvaters wurde nach den Schloschim wieder gestutzt. Visuelle Zeichen der Normalität, die schleppend, aber sicher wieder einkehrte.
Seit einigen Wochen wird in Europa über Sterbehilfe und assistierte Sterbehilfe diskutiert, ich lese dazu immer wieder interessante Artikel und muss dabei unweigerlich an meine prägendste Erfahrung mit dem Tod eines Familienmitglieds denken. Und während ich die Form des selbst gewählten, würdevollen Tods als Menschenrecht betrachte, denke ich an die Gefühle der Hinterbliebenen. Denn mit dem Tod eines geliebten Menschen – ob plötzlich oder schleichend – geht immer auch eine Leere einher, in der ich mich ohne die Rituale des Trauerjahrs verloren hätte. Es brauchte seine Zeit, bis ich ein für mich mit meinem modernen Leben vereinbares Maß an Jüdischsein fand. Das Halten der Schabbatregeln ist nichts für mich, ich faste am Jom Kippur, dem Versöhnungstag nicht, und esse sehr gerne und sehr oft unkoschere Meeresfrüchte. Die Rituale der Trauer wirkten jedoch wie Leitplanken auf der Schnellstraße meines Lebens.
Der Todestag meiner Tante jährte sich in diesem Jahr zum 15., der meiner Großmutter zum 14. Mal. Wir alle können den Schmerz der ersten 365 Tage nicht rekonstruieren und uns nur vage an den Verlauf der Schiwe erinnern. Was jedoch blieb, ist die Verwurzelung mit unseren Traditionen, die, auch in dieser modernen Welt, Sinn ergeben, wo sie gebraucht werden. Vor einigen Wochen feierten wir das Pessach-Fest und gingen am nächsten Tag erstmals gemeinsam auf den Kölner Friedhof. Meine Eltern, meine Cousine und ich. Als wir vor dem Grab meiner Tante, der Tochter, Schwester und Mutter standen, legte mein Großvater einen Stein zum Andenken auf die Marmorplatte. Denn auch das gehört zur jüdischen Form der Trauer – Steine statt Blumen. Weil Erinnerung ewig ist.