Ich habe vor Kurzem eine Maßeinheit erfunden, sie heißt Deutschland-Dioptrien. Mein Deutschland-Dioptrienwert liegt bei ungefähr +50, ich bin also deutschlandweitsichtig. Praktisch sieht das so aus, dass ich auf Überlandfahrten durch den Osten oft durch Orte komme, in denen ich nicht anders kann, als mich zu fragen, wie sieht es hier einmal aus, in fünfzig Jahren?
Die Orte, in denen ich mich das frage, haben Gemeinsamkeiten. In ihnen hängen Rollläden vor Fenstern wie schwere Lider vor müden Augen. In ihnen kleben Zettel an Türen von Geschäften und berichten von deren Aufgabe: »Liebe Kunden, nach 35 Jahren …« In diesen Orten kommt mir oft der Esel aus den Bremer Stadtmusikanten in den Sinn. Jener Esel, der behauptete, etwas Besseres als der Tod sei überall zu finden.
Sooft ich diese Orte dann wieder verlasse, nie verlassen sie mich. Der Grund dafür liegt in den düsteren Prognosen, die über einem Teil meiner Heimat liegen wie ein tief dräuender Himmel. Diese Prognosen haben die Frage des Ob schon beantwortet und bislang nur offengelassen, wo genau und wie heftig es bald knallen und gewittern wird. Rund 3,7 Millionen vor allem jüngere Menschen haben den Osten seit 1990 verlassen, ein Viertel seiner Gesamtbevölkerung. Das Durchschnittsalter ist auch deswegen von 37,9 auf 46,3 Jahre gestiegen. Fast drei Viertel derer, die noch im Osten leben, wohnen im ländlichen Raum. Ihr Vermögen, ihr Lohn, folglich ihr Steueraufkommen – alles liegt im Durchschnitt deutlich unter dem Niveau des Westens, und wenn es mal wieder ein »Ranking der Regionen« in Deutschland gibt, ist klar, wo die roten Laternen leuchten: Mansfeld-Südharz, Vorpommern-Greifswald, Altmarkkreis Salzwedel.
Die Bürgermeisterin von Pulsnitz in Sachsen erzählte vor ein paar Jahren, ihr Ort sei ein Schwerpunkt der Altenpflege und das vierte Pflegeheim gerade fertiggestellt und eingerichtet worden, »bis zur letzten Tasse«. Eröffnen konnte sie es trotzdem nicht, es fehlte an Bewerbern für die Arbeitsplätze in dem Heim. Der Bürgermeister von Rothenburg in der Oberlausitz sagte, seine Leute im Ort würden den eigenen Markt nur noch »die toten Augen von Rothenburg« nennen, so viele stumpfe Schaufenster gebe es dort, so wenige offene Geschäfte. Der Bürgermeister von Johanngeorgenstadt im Erzgebirge erwiderte, das Problem habe er so nicht, denn einen richtigen Markt gebe es bei ihm nicht mehr.
In Sebnitz habe ich einen Pfarrer mal gefragt, wie viele Beerdigungen, Taufen und Hochzeiten er im Jahr durchführe. Er sagte, Hochzeiten seien es etwa zwei, Taufen vielleicht zehn, Beerdigungen locker fünfzig. In Zittau erzählte mir eine ältere Frau, es gehe schon lange nicht mehr darum, ob man bei Krankheit einen guten Arzt finde. »Man muss froh sein, wenn man überhaupt einen findet!« Wo wir gerade in der Lausitz sind: Der Wirtschaftswissenschaftler Joachim Ragnitz sagte in einer Diskussion zur Zukunft der Region, eigentlich könne man »über jeden Arbeitsplatz froh sein, der nicht entsteht, weil wir ihn sowieso nicht besetzen könnten«.
In Sachsen-Anhalt trat in einem Landtagswahlkampf eine satirische Initiative auf und schlug vor, nur Halle und Magdeburg zu erhalten und den weiten Rest des Landes einfach aufzuforsten. Es passierte mehr als einmal, dass auf diesen Vorschlag nicht nur Gelächter folgte, sondern Leute so ein lüsternes »Warum eigentlich nicht?«-Gesicht machten. Nie vergessen werde ich eine Veranstaltung in Pirna, auf der eine Studie vorgestellt wurde. Es ging um urbane Wachstumszentren und auch um die Frage, wie die Zukunft außerhalb dieser aussehen könnte. Meine Heimat Sachsen war auf einer Karte wie so oft ziemlich kräftig eingefärbt, und als ich in der Legende nachlas, was es mit dieser kräftigen Farbe auf sich hatte, blieben mir Luft und Spucke weg: Die meisten Orte im ländlichen Raum, so lautete der offizielle und gänzlich nicht satirische Vorschlag an die Politik, solle man »palliativ begleiten«.
Ich sehe die Statistik und die Prognosedaten, ich höre die Geschichten – und ich frage mich, was das alles gemessen in Deutschland-Dioptrien bedeutet. Ist der demografische Tipping Point bereits erreicht, und forsten wir den nicht städtischen Osten irgendwann einfach auf, und das wäre ja auch nicht weiter schlimm, weil vor allem ein Beitrag zum Klimaschutz? Oder ist dieses Endspiel um einen ganzen Landesteil noch nicht verloren, ist es womöglich grundsätzlich gar nicht zu verlieren, weil auch das Überleben des ländlichen Raums keine Frage des Ob ist, sondern nur eine des Niveaus?
Wenn ich in der Frage eines sicher weiß, dann, dass ich keine Ahnung habe. Ich weiß ja nicht mal, ob es schon ein Wert an sich ist, wenn irgendwo Menschen wohnen. Ob das besser ist, als wenn da niemand wohnte. Ich weiß aber, dass trotz Freizügigkeit und gleichwertiger Lebensverhältnisse und trotz allem anderen, was noch so im Grundgesetz steht, nicht jedes Straßendorf aufrechterhalten werden wird. Die Frage ist also nur, ob gerade etwas stirbt – oder ob es schon gestorben ist und der Tod sich bislang nur versteckt wie bei einem Baum, der von außen noch im Leben steht, während drinnen schon die Fäule tobt.
Es ließen sich etliche Bereiche nennen, in denen Systeme kollabieren werden, von der medizinischen Versorgung über den Feuerwehrnachwuchs bis zum Busfahrplan. Aber dann bliebe am Ende wieder nur ein bequemer Grusel beim Aus-der-Ferne-Betrachten des Endzeit-Thrillers Demografie. Und so düster die Aussichten für einige Regionen speziell im Osten sind, so oft haben sich in der Vergangenheit Aussichten dann überraschend doch einmal geändert. Die Österreichische Neue Tageszeitung titelte schon 1959: »Sozialstaat ist in der Sackgasse – Wer zahlt morgen die Renten?«. Und sechs Jahre zuvor hatte Adenauer die damalige Bevölkerungsentwicklung mit dem ziemlich voreiligen Satz kommentiert: »Dann sterben wir ja aus.«
Gegen die Prognosedaten stehen auch viele Pioniere und Bürgerinnen, Ehrenamtliche und Bürgermeisterinnen in den abgehängten und abgerankten Regionen. Sie geben den genannten Zahlen trotz aller Schwierigkeiten in der Lausitz oder in Vorpommern ein oft erstaunlich fröhliches Gesicht – und eine Zukunftslaune, die so langsam von der Depression fortgeht in Richtung Sven Regeners Delmenhorst: »Erst wenn alles scheißegal ist, macht das Leben wieder Spaß«.
Auch solche Menschen hat der norddeutsche Fotograf Jérome Gerull in Zeitz in Sachsen-Anhalt getroffen (seine Bilder sehen Sie auf diesen Seiten). Umtriebige Kreative, die einer Stadt Hoffnung und Neuanfänge geben, in der rund jedes dritte Wohnhaus leer steht und alles günstig zu mieten ist. Zu kaufen auch, ganze Häuser sind für fünfstellige Beträge zu haben. Zeitz, Burgenlandkreis, etwa vierzig Kilometer vor Leipzig, hat seit der Wende jeden dritten Einwohner verloren. Die Stadt hat viel gelitten und wird potenziell weiter leiden: Ein naher Tagebau bietet noch Arbeit, für immer wird er das nicht. Gerull hat in Zeitz viele stumpfe Fassaden gefunden, aber nicht nur. Sondern auch Menschen, die mehr Vertrauen in ihre Stadt haben als in kalte Extrapolationen irgendwelcher Daten.
Und es kann doch sein. Es kann sein, dass gerade in den Regionen, die nicht unter so einem hohen sozialen und wirtschaftlichen Druck stehen wie gegenwärtig die größeren Städte, sich neue Formen des Zusammenlebens etablieren. Formen, in denen das Wachstum materiellen Wohlstands nicht mehr das dominante (und auf hohem Niveau ein bisschen dumme) Ziel allen Strebens ist. Es kann sein, dass die durchaus noch jungen Leute, die zum Beispiel in der Lausitz gerade zunehmend Verantwortung übernehmen für ihre Heimat, auf lange Sicht genauso belebend wirken, wie zuletzt die Leuchtturmpolitik und der Rückzug des Staates aus der Fläche abtötend gewirkt hatten. Es kann sein, dass Regionen sich in den nächsten Jahren gesundsterben, dass sie einige Orte aufgeben und dafür einen kräftigen zivilen Kern so stärken, dass dort Geschäfte geöffnet bleiben und die Häuser entgegen aller Prognosen nur nachts ihre Rolllädenlider senken. Und solange solche Dinge sein können, ist das Endspiel nicht vorbei. Der Glaube daran kann mithelfen, selbst Zahlenberge zu versetzen.