Name: Kristin Bethge
Alter: Geboren 1988
Ausbildung: Hochschule Mainz, Fachbereich Gestaltung – Kommunikationsdesign
Wohnort: Mainz, bald Rio de Janeiro und Maré für neue Projekte
Website: kristinbethge.com
SZ-Magazin: Wie sind Sie überhaupt nach Maré gekommen? Das ist ja kein Ort, wo man einfach so hinfährt...
Kristin Bethge: Ich habe dort 2013 drei Monate lang für eine NGO gearbeitet. 2014 bin ich dann noch einmal dorthin gereist – die Parallelwelt der Favelas hatte mich in ihren Bann gezogen.
Warum?
Maré ist nur 30 Busminuten von Rio de Janeiro entfernt und doch gelten dort andere Gesetze. An jeder Ecke sieht man mit Maschinengewehren bewaffnete Männer, die zu den Drogenbanden gehören. Mich haben allerdings vor allem die Frauen fasziniert – sie sind die stillen Heldinnen dieses Ortes. Starke Persönlichkeiten mit großer Entschlossenheit, die sich in ihrer Gemeinde engagieren, arbeiten, ihre Kinder großziehen, nebenbei studieren und motiviert sind, etwas aus ihrem Leben zu machen. Die Bewohner der Favelas sind stigmatisiert als ärmliche Bevölkerung – und doch denken viele dort gar nicht anders als wir.
Wie war es Ihnen möglich, in dieser fremden Umgebung zu fotografieren?
Nach vielen Gesprächen – vor allem mit der 13-jährigen Joyce, aber auch mit etlichen anderen Bewohnerinnen und Bewohnern – habe ich mich an den Ort gewöhnt und konnte alleine rumlaufen. Darauf haben sich die Interview- und Bildsituationen ergeben.
Aber ist Maré nicht ein sehr gefährlicher Ort?
In Maré leben 140.000 Menschen, es ist ein Komplex aus 16 Favelas, die eingekesselt zwischen zwei Hauptstraßen liegen. An diesen stehen oft Polizeiautos, die Polizisten versuchen, den Überblick zu bewahren. Sobald man aber etwas weiter hinein geht, sieht man die ersten Drogendealer, die bewaffnet ihr Gebiet markieren. Ich habe mich trotzdem irgendwann relativ sicher gefühlt: Wenn man die Leute dort kennt und dort verankert ist, ist man ein Teil der Gemeinschaft und wird nicht überfallen. Eine Frau aus Maré hat mir einmal sogar erzählt, sie würde niemals nach Ipanema oder an die Copa Cabana fahren, dort wäre es ihr viel zu gefährlich!
Was wollten Sie mit Ihren Bildern zeigen?
Es war mir sehr wichtig, die subtile Ästhetik darzustellen. Maré kommt immer schlecht weg, als Ort des Schreckens, in deutschen wie in brasilianischen Medien. Die Lebensbedingungen sind aber gar nicht so katastrophal.
Gehen die Kinder dort zur Schule?
Ja, die gehen ganz normal auf eine öffentliche Schule in Maré. Wenn es nicht gerade wieder Schießereien gibt. Die kommen in Maré leider weiterhin vor.
Wie gehen die Menschen mit dieser Gefahr um?
Ich konnte manchmal eine gewisse Schwermut spüren – fast jeder hat schon jemanden verloren. Es gibt das beflügelte Wort »Bala Perdida«, was so viel heißt wie »verlorene Kugel« – damit sind Querschläger gemeint, die Unschuldige treffen. Die Gefahr ist sehr präsent – es wurden schon Kinder am Frühstückstisch durch solche Kugeln getötet. Bei der Pastorin, die ich fotografiert habe, gibt es zum Beispiel in der Küche ein Einschussloch in der Fensterscheibe. Ein anderer Punkt ist: Die Polizei wird als Feind betrachtet. Mir fiel auf, dass die Menschen in Maré anders behandelt werden, ihre Rechte werden oft nicht respektiert. Die Polizei dringt in Wohnungen ein, sie zwingen dich, deine Taschen auszuleeren. Und das ohne Grund. Deshalb werden die Drogenbanden von vielen als Beschützer angesehen. Sie übernehmen Aufgaben der Polizei, und man zahlt zum Beispiel auch Miete an sie. Es ist aber gefährlicher geworden. Die Pastorin sagte mir: »Früher kannte man den Drogendealer, weil er dein Nachbar war, als kleiner Junge im Fussballverein gespielt hat. Heute kommen sie aus allen Gebieten Brasiliens und haben keinen Bezug und keinen Respekt mehr vor den Bewohnern«.
Wie sieht die Zukunft der Menschen in Maré aus?
Es herrscht dort schon eine gewisse Perspektivlosigkeit. Wenn man die Menschen fragt, ob sie Maré verlassen würden, sagen sie: »Ja, sofort. Aber hier ist es so billig.« Rio ist im Vergleich zum Beispiel extrem teuer. Viele studieren an der öffentlichen Universität und bleiben dann doch in Maré, bei der Familie. Manche sagen auch, dass sie Maré sehr schätzen, weil man mit seinen Nachbarn so eng verbunden ist wie in einem kleinen Dorf. Andere empfinden die Gewalt und die Unsicherheit als belastend und würden am liebsten schnell wegziehen.
Fotos: Kristin Bethge