Eigentlich ist es tragisch, eine Frau zu sein. Weil die meisten von uns ein Schicksal erwartet, vor dem viele die Augen verschließen: Sie werden ihren Partner überleben. Und sie werden sich die Frage stellen müssen: Schaffe ich es, meinen Partner zu pflegen? Und, viel wichtiger: Möchte ich das auch?
Ich hatte diese Fragen immer verdrängt, bis es bei mir selbst so weit war. Bis die Alzheimer-Erkrankung meines Mannes so weit fortgeschritten war, dass ich mich den ganzen Tag – und damit meine ich den ganzen Tag – um ihn kümmern musste.
Alzheimer hat dafür gesorgt, dass ich keine Ehefrau, Partnerin, Vertraute mehr war. Ich war nur noch zuständig: als Haushälterin, Souffleuse, Verwalterin, Pflegerin und Chauffeurin meines Mannes. Egal, ob ich auf die Aufgaben vorbereitet war oder nicht.
In der Nacht wachte ich häufig davon auf, dass das Laken nass wurde. Ulli hatte seinen Penis aus der Windel geholt und ins Bett gepinkelt. Ich zog das Bettzeug ab, steckte es in die Waschmaschine, wischte die Matratzenauflage trocken und bezog das Bett neu. Dann legte ich mich wieder für ein paar Stunden hin. Morgens stand ich vor ihm auf und frühstückte. Danach versuchte ich ihn zu wecken. Das machte ihn wütend. Aber ich wusste, dass er wieder neben seine Windel pinkeln würde, wenn ich ihn nicht dazu bringen würde, aufzustehen und aufs Klo zu gehen.
Ich begleitete ihn ins Bad, rasierte ihn, setzte ihn unter die Dusche und brauste ihn ab. Er hatte vergessen, wie man sich wäscht. Dann trocknete ich ihn ab und zog ihn an. Er hatte vergessen, wie man sich anzieht. Ich schmierte ihm zwei Brötchenhälften. Er hatte vergessen, wie man Frühstück macht. Dann stellte ich sie vor ihm hin und setzte mich daneben, damit er nicht vergaß, sie auch zu essen. Und legte ihm all seine Pillen zurecht. An manchen Tagen musste ich sie ihm in den Mund stecken und ihm das Wasserglas an die Lippen führen. Er hätte die Medikamente sonst vergessen, obwohl sie vor ihm lagen.
Wie ich dieses Wort hasse: vergessen.
Danach: Zähne putzen, ihn zu seinem Sessel begleiten (er wusste noch, wie man geht, aber nicht mehr, wie man bremst), darauf achten, dass er sich in den Sessel setzt und nicht versehentlich auf den Beistelltisch.
Meistens war das der Zeitpunkt, an dem ich das erste Mal am Tag geweint habe. Wenn ich nicht schon nachts geweint habe, während ich die Bettwäsche in die Waschmaschine gestopft habe.
Mein Mann und ich teilten keine Sorgen mehr, wir lachten nicht mehr gemeinsam, wir stritten nicht mehr, er schaute mich nicht mehr an. Wenn ich weinte, fragte er nicht warum.
Sein Geist war hinter einer Milchglaswand. Die einzige Emotion, die noch aufblitzte, war Wut. Wenn er sich über sich selbst ärgerte, weil er vergaß, wie man ein Marmeladenbrötchen kaut, oder weil er sich über mich ärgerte, weil ich ihn nicht einfach in Ruhe ließ. Das war alles, was er noch wollte: Ruhe.
Einmal stürzte er im Flur. Ich wollte ihm aufhelfen, er stemmte sich gegen mich, wie ein kleines Kind. Nur war er immer noch stärker als ich. Irgendwann gab ich auf. Und rief meinen Schwiegersohn an, ob er mir helfen kann, ihn wieder auf die Beine zu stellen.
Die Pflege überforderte mich, das war klar. Aber ich wollte es nicht wahrhaben. Erst ein drastischer Einschnitt half mir, das zu erkennen. Aber davon erzähle ich nächste Woche.