Mein Mann Ulli war nie gut darin, über Gefühle zu reden. Aber er war gut darin, sie zu zeigen. Wenn wir spazieren gingen, suchte er die Wege nach glatten Steinen ab, Handschmeichlern, die er dann in seine Hosentaschen steckte. Für unsere Enkelin. Wenn etwas kaputt war, reparierte er es. Er schraubte die Gehäuse von CD-Spielern, PCs und Radios auf, sortierte Kabel und lötete. Wenn wir abends ein Glas Wein auf der Terrasse tranken, rutschte er auf der Bank zu mir und legte den Arm um mich, braungebrannt von der Arbeit im Garten.
Das Leben hat keine abgetrennten Kapitel wie ein Buch. Die Phasen fließen ineinander, die Enden verschwimmen und eigentlich sind es nie Enden, denn es geht ja immer weiter.
Aber in meinem Leben gab es ein jähes Ende. Es war der Tag, an dem Ulli in unseren Kühlschrank pinkelte, weil er ihn nicht mehr von der Toilette unterscheiden konnte. Als ich die uringetränkten Karotten aus dem Gemüsefach nahm und in den Mülleimer schmiss, würgte ich. Nicht wegen des Ekels. Sondern wegen der Einsamkeit. Ich wusste, dass der Mann, mit dem ich mehr als vierzig Jahre lang jeden wichtigen Moment erlebt hatte, nicht mehr da war.
Es gibt zwei Dinge, die einen Menschen formen: Sein Charakter, die Art, wie er der Welt begegnet. Und Erinnerungen. Alzheimer höhlt den Menschen aus und nimmt ihm beides. Mein Mann wurde zu einem bockigen Kind. Alle Erinnerungen waren weg. Wie er mich im Italien-Urlaub kennenlernte und am Strand mit seinem schiefen Lächeln anlächelte, wie ich zurücklächelte und der Wind meine Haare zerzauste und wir dann Pfirsiche aßen und der Zuckersaft in unseren Mundwinkeln klebte, und wie unsere pausbäckige Tochter im Kindersitz neben ihm im Käfer saß und ihre Finger nach ihm ausstreckte, die gerade mal so lang waren, wie die Spitzen seiner, und wie er ihr Fahrrad reparierte, damit sie zur Friedensdemo fahren konnte, und wie wir entschieden, in die Stadt zu ziehen, man weiß ja nicht, wie lange man fit ist im Alter, und wir gehen doch so gerne in Konzerte, und wie unsere Enkel durch unsere Wohnung rannten, mit trommelnden Füßen über die Dielen, und wir wussten, wie laut ihre Schritte in der Arztpraxis unter uns dröhnen würden, aber es war uns herzlich egal, weil sie beim Rennen mit ihren kräftigen Oberschenkeln und Stramplern so niedlich aussahen.
Das weiß nur noch ich.
Ich schäme mich dafür, wie ich mich verhalten habe, als die Krankheit in unser Leben schlich. Ulli ging zum Bäcker Brötchen holen und kam ohne Brötchen zurück. Ulli wollte Auto fahren und fuhr einfach in der Mitte der Straße. Ulli wollte sich in seinen Sessel setzen und landet mit seinem Hintern auf dem Beistelltisch. Ich schrie ihn jedes Mal an. Ich dachte, er mache es mit Absicht. Ich dachte, dass sie doch noch gekommen sei, unsere Ehekrise, und wir uns nur noch provozieren und zermürben wollten.
Ich wünschte, ich könnte die Worte zurücknehmen. Ich wünschte, ich hätte mehr Geduld mit ihm gehabt. Aber Alzheimer ist der Endgegner, wie meine Enkel sagen würden. Man darf schreien, brüllen, auf Kissen einschlagen, aus der Wohnung stürmen und weiterbrüllen. Das Leben ist manchmal zu schwer, um anders darauf zu reagieren.
Die Diagnose war eine Erleichterung. Ich konnte endlich alles einordnen. Aber wir mussten mit unseren Kindern darüber sprechen. Meine Tochter arbeitet in der Pflege. Als ich es ihr sagte, stand sie vom Esstisch auf, lief in den Garten und blieb mit dem Rücken zu uns stehen. Sie schaute minutenlang auf die Haselnusssträucher. Sie wusste, was auf uns zukommen würde.