Ich stand vor kurzem in der Drogerie an der Kasse. Vor mir war eine junge Frau, die Kondome auf das Warenband legte. Sonst nichts. Als die Kassiererin die Kondome über den Scanner gezogen hatte, versuchte die Frau nicht etwa, die Packung schnell in die Tasche zu stecken, sondern bezahlte erst mal und wünschte der Kassiererin einen schönen Tag. Als hätte sie ein Päckchen Kaugummi gekauft. Ich stand da und freute mich. Denn die Szene zeigte mir etwas, das ich immer wieder wahrnehme: Es ist heute das Normalste der Welt, dass junge Frauen Sex haben. Wie großartig. So hätte es schon immer sein sollen.
Meine frühen Erfahrungen waren anders. Es fing schon damit an, dass ich wirklich nicht viel darüber wusste, was zwischen Männern und Frauen passieren kann. Meine Eltern waren sehr katholisch und dachten gar nicht daran, mich aufzuklären. Wer weiß, was möglich ist, könnte ja auf Gedanken kommen. Auch die Welt um mich herum war vollkommen entsexualisiert. In den Filmen meiner Jugend wurde höchstens angedeutet, dass es noch mehr als romantische Küsse im Regen gibt.
Sex war eine Welt, zu der ich keinen Zugang hatte. Bis ich als Jugendliche heimlich begann, mir in den medizinischen Fachbüchern meiner Eltern – beide waren Ärzte – ein bisschen Wissen über die grundlegenden Vorgänge zusammenzuklauben. Es war sehr technisches Wissen, mehr nicht.
In meiner Schulzeit hätte ich niemals offiziell einen Freund haben dürfen, deswegen liefen meine Verknalltheiten heimlich ab. Die Jungen holten mich zum Klingeln der Schulglocke ab und begleiteten mich zum Bahnhof. Wir hatten fünfzehn himmlische Minuten Fußweg zusammen, das wars. Es gab gute Straßen, die etwas abseits verliefen, da trauten sich manche meiner Angebeteten, kurz meine Hand zu halten oder mir einen Kuss auf die Lippen zu drücken. Aber es waren flüchtige Momente, in denen sie und ich zitterten. Es hätte gereicht, wenn uns auch nur ein Bekannter meiner Eltern gesehen hätte.
Natürlich habe ich damals gemerkt, dass ich Verlangen habe. Aber alles daran war mit Scham verbunden. Ich konnte mit niemandem darüber reden. Ich bekam nur die negativen Seiten mit, wenn ich durchs Wohnzimmer lief, während meine Mutter Besuch von einer Bekannten hatte und die beiden leise darüber tuschelten, dass Frau X oder Y zu der Engelsmacherin gehen musste und bei der Abtreibung etwas schief gelaufen sei und sie jetzt keine Kinder mehr bekommen könne.
Das war der Preis, den man als Frau für eine Affäre außerhalb einer Ehe zu zahlen bereit sein musste.
In einem Italienurlaub lernte ich dann Ulli kennen, meinen späteren Mann. Zurück in München verabredeten wir uns abends. Wie schon beschrieben, hätte er mich nicht alleine besuchen dürfen, aber ab und zu erlaubten ihm seine Vermieter, dass er mich in seinem kleinen Zimmer bekochte. Die guten Nudeln, der Rotwein, Ulli – an einem dieser Abende passierte es. Ich wurde schwanger.
Natürlich hatten wir versucht zu verhüten, mit Coitus Interruptus. Dass das keine wirklich gute Verhütungsmethode ist, war mir klar. Aber wir hatten keine Alternative. Die Pille war damals noch nicht auf dem Markt. Kondome waren zu bekommen, aber nicht auf die Weise, in der die junge Frau im Drogeriemarkt sie an der Kasse vor mir gekauft hatte. Man musste in die Apotheke gehen und ertragen, dass einen die Person im Kittel verurteilt. Weder Ulli noch ich trugen einen Ehering und selbst der hätte im Zweifelsfall nicht viel geholfen. Wer Sex haben wollte, musste bereit sein, auch Kinder zu zeugen, so war das damals in der öffentlichen Wahrnehmung. Und Ulli und ich waren so dazu erzogen worden, uns für all das damit Verbundene zu sehr zu schämen.
Als mein Bauch begann, sich abzuzeichnen, verließ ich die Schauspielschule. Ich kann mich noch an jeden verachtenden Blick meiner Mitschüler und Lehrer erinnern.
Ich bin trotzdem froh, dass ich schwanger wurde. Denn sonst gäbe es meine älteste Tochter ja nicht, und meine Kinder sind das Beste an meinem Leben. Ich hätte nur davor und dazwischen gerne so sorgenfreien Spaß gehabt wie die junge Frau nach ihrem Drogeriebesuch.