Nabendallerseits

Endlich wieder Fußball-EM. Leider gibt es einen Menschen, der zwischen uns und dem Spiel steht: den Fußballkommentator.

Béla Réthy und Kollegen machen sich es nicht nur im Stadion, sondern auch in unseren Wohnzimmern gemütlich.

Foto: obs/ZDF/Jean-Francois Deroubaix

Eigentlich sind sie gar nicht der Rede wert. Behaupten jedenfalls diejenigen, die an allem schuld sind. Nichts sei unwichtiger für ein Fußballspiel als der Kommentator, sagte zum Beispiel der Fußballkommentator Gerd Rubenbauer. Es sei eine sehr schaumige Kunst, die man abliefere, man rede, und dann sei es weg, sagte der Fußballkommentator Marcel Reif. Schon eher auf den Punkt bringt es der Fußballkommentator Wolff-Christoph Fuss: »Du bist der Gast im Wohnzimmer der Leute, der, der nicht eingeladen wurde.«

Es gibt wenige Menschen, die ein größeres Publikum haben als Reporter, die Länderspiele kommentieren. Und seit dank der Pandemie die Stadien leer sind, seit die Dramaturgie und das Spektakel der Massen fehlt, rücken die Kommentatoren – und, noch sehr selten: Kommentatorinnen – in ihrer Rolle als Vermittler sogar noch stärker in den Vordergrund. Wer Fußball zu Hause schaut und nicht im Stadion, und das war auch vor Corona die Mehrheit, kommt nicht an ihnen vorbei. Es sei denn, man stellt den Ton stumm.

Nun ist Europameisterschaft. Und weil sich die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten dafür die Übertragungsrechte gesichert haben, machen es sich in unseren Wohnzimmern also Gerd Gottlob, Tom Bartels, Florian Naß und Thomas Broich von der ARD gemütlich sowie Béla Réthy, Oliver Schmidt, Martin Schneider und Claudia Neumann vom ZDF.

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ARD und ZDF schaffen es viel zu selten, das Spektakelauf dem Rasen angemessen auf die Tonspur zu bringen

Zugegeben, Live-Reporter sind auch nur Menschen, die ihren Job machen. Das Lamento über sie aus dem bequemen Sessel zu Hause ist wohlfeil und ungerecht und fast so alt wie das Fernsehen. Eigentlich seien Fußballreporter tragische Figuren, heißt es, Blitzableiter für billigen Zuschauerfrust, Prügelknaben für ewige Besserwisser. Andererseits ist stille Duldsamkeit auch keine Lösung. Wer eine Dienstleistung anbietet, muss die Meinung seiner Kunden ertragen. Oder wie es Marcel Reif einmal ausdrückte: »Ich beschenke Menschen mit meiner Kunst, und darüber sollen die sich freuen. Und wenn nicht, sollen sie sich darüber ärgern.«

Also dann. Mal einen Spieler verwechselt oder vorschnell geurteilt, geschenkt. Der Ärger über die Kunst sitzt tiefer. ARD und ZDF schaffen es viel zu selten, das Spektakel auf dem Rasen angemessen auf die Tonspur zu bringen. Und damit ist nicht ein Mangel an Adrenalin und Identifikation gemeint. Hemmungsloser Patriotismus und aufpeitschende Torschreie, die zum Beispiel den isländischen Kommentator Guðmundur Benediktsson bei der EM 2016 zu Weltruhm verhalfen, verbieten sich für ein Land mit unserer Geschichte. Was fehlt, ist das, was den Reporterjob erst legitimiert: der Mehrwert jenseits der Schilderung des Offensichtlichen. Reus. Flanke. Müller. Tor. Ach?

Das Spiel ist nicht nur schneller geworden, sondern vor allem komplexer. Mit der Conferencier-Lakonie eines Rudi Michel oder Ernst Huberty käme man heute nicht mehr weit. Im hochgepitchten Fußball unserer Zeit geht es um Schnittstellenpässe, falsche Neuner, um Polyvalenz und das Überspielen des Gegners, um Expected Goals und Heatmaps. Zu hören bekommt man aber die immergleiche Zahlenhuberei aus Ballbesitz, Zweikampfquoten und anderem unnützen Wissen.

Für den Philosophen und Fußballkolumnisten Wolfram Eilenberger grenzt das manchmal an magisches Denken: »Da werden absurde Daten ins Spiel gebracht, die angeblich einen Einfluss auf das Spielgeschehen haben sollen, aber mit keinerlei Erkenntnisgewinn verbunden sind. Seit 666 Minuten kein Tor geschossen! Die letzten vier Qualifikationsspiele nur zwei Punkte geholt! Keine Zahlenmystik wäre die Information, dass ein Einwechselspieler fünf seiner sieben Tore als Joker geschossen hat. Wenn also Muster mit Deutungswert erklärt werden.«

Leider ist für die Deutung des Spiels schon lange kaum mehr der Livereporter zuständig, sondern die Expertenschar in der Halbzeitpause und nach dem Spiel. Diese Auslagerung ist natürlich dem Fernsehgeschäft geschuldet, das seine Zuschauerinnen und Zuschauer auch in der Pause und nach dem Abpfiff bei der Stange halten will. Für das Publikum ist sie wesensfremd (für den Reporter grenzt sie an Sabotage). Diese Expertise immer erst nachgeliefert zu bekommen ist so unbefriedigend wie einen Thriller zu schauen, dessen Plot man hinterher bei Wikipedia nachschlagen muss.

Statt Tiefe und Analyse bekommt das deutsche Fernsehpublikum rhetorisches Blendwerk und schiefe Metaphern

Eine Lösung wäre ein zweiter Mann (oder eine Frau) in der Reporterkabine, was in Fußballnationen wie England, Spanien und Italien oder bei Online-Anbietern wie DAZN längst Standard ist. Trotz erster Gehversuche in diese Richtung regiert hierzulande beharrlich der Solist. Wenn überhaupt, wird nur kurz eine Zweitmeinung eingeholt. Dabei liegt es in der Natur der Sache, dass vier Augen mehr sehen als zwei und das Monologisieren kaum Raum lässt für das, was Fußball auch ausmacht: Dynamik, Zusammenspiel, manchmal sogar Anarchie. Wie viel unerwarteten Mehrwert ein Duo entfachen kann, zeigten Marcel Reif und der später hinzugeschaltete Günther Jauch 1998 beim berühmten Torfall von Madrid. Die beiden spielten sich in den 76 Minuten, die es brauchte, ein eingestürztes Tor zu ersetzen, rhetorisch gekonnt die Bälle zu: »Für alle die, die nicht rechtzeitig eingeschaltet haben – das erste Tor ist schon gefallen«, sagte Jauch. »Noch nie hätte ein Tor einem Spiel so gutgetan«, entgegnete Reif. Ihre gefeierte Teamleistung (Bayerischer Fernsehpreis) war eine Steilvorlage, doch die Chance, grundsätzlich etwas zu ändern, blieb ungenutzt.

Fußball ist mehr als nur ein Spiel, mehr als nur ein Milliardengeschäft. Er rührt an tiefste Dinge. In 90 Minuten entfaltet sich ein Geschehen, in dem es Helden gibt und Schufte, Tragödien und Triumphe. Oder wie es Wolfram Eilenberger ausdrückt: »Jedes Fußballspiel ist ein Experiment, das uns die ontologische Offenheit unseres Daseins vorführt. Ein guter Reporter nimmt einen in diese Offenheit mit.« Oder eben auch nicht.

Die Drehbuchautorin Katti Jisuk Seo und ihr Kollege Mark Wachholz analysierten 2014, wie zwei BBC-Reporter das 7:1 der deutschen Mannschaft gegen den WM-Gastgeber Brasilien kommentierten, und verglichen deren Arbeit mit der von Béla Réthy für das ZDF. Ihr Urteil war eindeutig: Réthy konnte dem Spielverlauf fast nur ungläubiges Staunen abringen (»Was ist denn hier los? Wahnsinn!«), dagegen überragten Deutungskompetenz und Erzählkunst der britischen Reporter, die das Spiel sehr schnell als Charaktertest interpretierten, der mit jedem Gegentor weiter eskalierte. Die beiden Briten vermaßen den Möglichkeitshorizont immer wieder neu: Was passiert als nächstes, kommen die Brasilianer zurück? Dann, ab dem 3:0: Bricht die Mannschaft auseinander? Schließlich: Können sie ihre Würde retten? Sie schauten nach vorne, interpretierten, boten nach jedem Tor ein neues Momentum an, während Réthy bereits nach dreißig Minuten sein »Endfazit« zog. Das deutsche Fernsehpublikum bekam von Réthy einen seltsamen Betriebsunfall geschildert, das britische wurden Zeuge eines existenziellen Dramas, das tiefe Einblicke in die Abgründe unseres Daseins gewährte: Was passiert mit Menschen unter Druck?

Statt Tiefe und Analyse bekommt das deutsche Fernsehpublikum rhetorisches Blendwerk und schiefe Metaphern am Fließband. Da muss eine Mannschaft »jetzt ihr ganzes Fleisch auf den Grill legen« (Fuss). Da sind »die Adrenalincontainer bis zum Anschlag gefüllt« (Oliver Schmidt). Und wenn Portugal in Rückstand einen neuen Spieler namens Folha bringt, dann weiß Béla Réthy: »Folha heißt auf Deutsch Blatt, das es ja jetzt auch zu wenden gilt.« Vorbei die Zeiten, als einer wie Heribert Faßbender sich für Sätze wie diesen wenigstens postwendend entschuldigte: »Toulouse or not to lose, das ist hier die Frage! Bitte verzeihen Sie mir diesen kleinen Kalauer.«

Die gute Nachricht ist: Steffen Simon kommentiert nicht mehr. Der WDR-Mann war der Meister der unangebrachten Pseudo-Dramatik, der gern in Schnappatmung verfiel, sobald ein Spieler sich entfernt in Richtung Tor aufmachte. Verlässlich sagte er das Erwartbare, und wenn er mal Überraschendes von sich gab, lag er meistens daneben. Er mäkelte 2014 an Mesut Özil herum, als der beständig zu den Besten zählte, und wusste bei anderer Gelegenheit über die Iraner zu berichten, dass »Südländer nicht so gut organisiert« seien. Dafür fühlte er jeden Krampf, jedes Foul, jede »Nickligkeit« mit, als stünde er selbst auf dem Platz. Bei Simon, der übrigens über eine wunderbare Stimme verfügt, hatte man immer das Gefühl, da berauscht sich einer an sich selbst statt am Spiel.

Was das betrifft, könnten sich tatsächlich alle Fußballkommentatoren gern etwas weniger wichtig nehmen.